Yijing

Yin (rot) und Yang (schwarz) in den gua 13 und 7 – © Kalligraphien: Chungliang Al Huang
Die 64 Gua
Das Yijing besteht aus 64 Strichzeichen (chines. gua = Bild), die durch kurze Texte (yao) erläutert werden. Jedes Zeichen ist aus sechs Linien (oder Strichen) aufgebaut und bildet ein sog. „Hexagramm“. Diese Linien verkörpern Yin oder Yang, die beiden Urkräfte der altchinesischen Naturphilosophie. Ein ganzer, durchgezogener Yang-Strich steht für „Stärke, Licht, Wärme, Ausdehnung“, eine geteilte Yin-Linie für „Sanftheit, Dunkelheit, Kälte, Rückzug“. Die jeweilige Mischung der Yin- und Yanglinien bestimmt die Symbolik eines Hexagrammes.
Jedes Hexagramm repräsentiert grundlegende Momente von Erfahrungs- und/oder Zeitqualitäten eines Lebewesens. Gua 3 etwa bespricht die Schwierigkeiten einer Neugeburt, gua 4 die Chancen und Risiken von Unbekümmertheit und Unerfahrenheit, gua 43 den Durchbruch nach einer Stockung usw. Alle 64 Hexagramme zusammen bilden ein universales Modell von Bewegungs- und Wandlungszuständen. Diese wohnen nicht nur natürlichen Entwicklungszyklen inne, sondern manifestieren sich auch auf der individuellen und gesellschaftlichen Ebene des Menschen.
Die Ursprünge der gua sind in bronzezeitlichen Praktiken der Orakelbefragung am Hof der Zhou-Dynastie (9.-7.Jh.v.Chr.) zu suchen. Um das 6.Jh.v.Chr. entstanden die Namen der gua mit einer knappen Beschreibung ihres Inhalts (dem „Urteil“) und den zu den Linien beigefügten Sprüchen. Jahrhunderte später begründeten Gelehrte der Han-Dynastie (206 v.-220 n.Chr.) das traditionelle Verständnis der Hexagramme aufgrund der Lehre von Yin und Yang, der Stellung der Trigramme (der zwei Hälften eines gua), dem Erscheinungsbild des gesamten gua, der Position der Linien und ihrer Beziehung zueinander sowie der Reihenfolge der 64 Hexagramme. Diese Auslegungsprinzipien sind im Wesentlichen gültig bis auf den heutigen Tag.
Hexagramme als symbolische Zeichen sind vielschichtig und mehrdeutig. In meinen Portraits versuche ich, die Grundbedeutung eines gua hervorzuheben. Dabei stütze ich mich auf die klassische Übersetzung von Richard Wilhelm wie auch auf die aktuellen Forschungen zum Yijing der westlichen Sinologie (insbesondere auf die Werke von Edward Shaughnessy, Richard J. Smith, Dennis Schilling und Dominique Hertzer). In die Texte eingeflossen ist zudem die langjährige praktische Anwendung des Yijing unter der Leitung von Bruno von Flüe in Luzern.
Die 64 Gua im Detail

乾
01 qián / Der Himmel
qián, der Himmel
qián, der Himmel
Das Schriftzeichen
Die ursprüngliche Bedeutung von qián lässt sich kaum mehr rekonstruieren. Einige Autoren sehen in ihm den Polarstern, andere die Sonne. Das Zeichen kommt nur im Yijing vor. In der Fassung von Mawangdui – einem der derzeit ältesten Yijing-Manuskripte – wird qián mit der Variante jian ersetzt, was etwa „Türbolzen“ oder „Riegel eines Schlosses“ bedeutet. Schon früh wurde qián mit dem die Jahreszeiten bestimmenden Lauf der Gestirne in Verbindung gebracht. Dieser „wirkende Himmel“ strukturiert die Rhythmen von Tag und Nacht, der Jahreszeiten und demzufolge die agrarischen Zyklen auf der Erde.
Die Trigramme
Das Hexagramm setzt sich aus der Verdoppelung des Trigrammes qián zusammen. Es besteht aus sechs durchgezogenen Linien, welche die reine, unvermischte Yang-Kraft symbolisieren.
Himmel und Erde
Hexagramm 1 und 2 repräsentieren die Urprinzipien Yang und Yin. Treten diese miteinander in Verbindung, entsteht „Alles unter dem Himmel“. Diese beiden Hexagramme werden deshalb gerne als „Pforten der Wandlung“ bezeichnet. Ein deutlicher Akzent von Sexualität schwingt mit: Die zur himmlischen Sphäre gehörenden Wolken und Regen befruchten die Erde. Das Begriffspaar qiánkun („HimmelErde“) schliesslich verweist auf die Totalität des Universums und alles, was dieses beinhaltet.
Grundbedeutung
Sowohl qián wie die sechs Yanglinien stehen für unerschöpfliche Energie. Sie durchdringt Himmel und Erde und dient als Quelle der „Zehntausend Wesen“, der phänomenalen Welt. Ihre kraftvolle Wirkung entfaltet sich in nie versiegendem Elan, in Kreativität und Vitalität. Richard Wilhelm spricht vom Schöpferischen, welches aus der Idee Gestalt werden lässt. Offermann von Vorwärtsdrang, rationalem Erfassen und Denken, von Zielstrebigkeit und Durchsetzungsvermögen.
Urteil und Linientexte
In den Linientexten verkörpert der Drache (ursprünglich ein Sternbild?), eines der populärsten und schillerndsten Symbole der chinesischen Kultur, die Stufen eines Entwicklungsprozesses. Als machtvoller Himmels- und Wassergeist ist er ein Sinnbild der energischen Yangkraft.
Licht und Schatten
Schöpfergeist und Tatkraft, gepaart mit natürlicher Autorität, die sich in überzeugendem Handeln und Denken äussert, gehören zu den attraktiven Eigenschaften dieses kreativen, vitalen Hexagrammes. Es sind gefragte Qualitäten der heutigen Leistungsgesellschaft (und dem damit einhergehenden Hamsterrad). Die Schattenseiten liegen in übertriebener Härte, Stolz und Sturheit. Da will einer „mit dem Kopf durch die Wand“, verwechselt Führung mit Diktat und glaubt, mit logischem Denken allein lasse sich alles erklären.

坤
02 kūn / Die Erde
kūn, Erde
kūn, Erde
Das Schriftzeichen
Wie qián kommt das Zeichen kūn nur im Yijing vor. Die Etymologie ist unklar, evtl. schwingen „hohl, leer, kahl“ als anfängliche Bedeutungen mit. Üblicherweise wird das Zeichen einfach als „Erde“ oder „Erdgottheit“ verstanden. Das Mawangdui-Manuskript verwendet nicht kūn, sondern das Zeichen chuan = Fluss, Strom als Titel des Hexagramms. Chuan ist der stetig dahinfliessende Fluss, die Flussquelle, der Flussgeist.
Die Trigramme
Das Hexagramm setzt sich aus der Verdoppelung des Trigrammes kūn zusammen. Es besteht aus sechs gebrochenen Linien, welche die reine Yin-Energie symbolisieren.
Himmel und Erde
Qián verursacht, erzeugt, führt, handelt. Kūn schafft, fördert, gebärt, vervollkommnet. Einer der ältesten und bedeutendsten Kommentare zum Yijing, „die Grosse Abhandlung“, umschreibt die Wirkungsweise der beiden Urprinzipien mit der Metapher des Öffnens und Schliessens der Himmlischen Pforte: „Das Schliessen der Tür ist kūn, das Öffnen ist qián. Schliessen und Öffnen, das sind die Wandlungen“. Die ursprüngliche Gleichwertigkeit veränderte sich unter konfuzianischem Einfluss zugunsten des Primates des Himmels (= der Herrscher): „Der Himmel ist oben, die Erde unten. Es ist das dao der Erde, dem Himmel zu dienen“. Die frühe daoistische Philosophie jedoch betont den Vorrang des mit der weiblichen Fruchtbarkeit gleichgesetzten Wassers, das als unversiegbarer Strom der Yin-Energie alle Wesen gebährt und durchdringt.
Grundbedeutung
Die reine Yin-Energie ist aufnehmend, nährend, austragend. Kūn ist latente Potenzialität, „ein weites Feld, unbebautes Land, wo wachsen kann, was gesät wird“ (von Flüe). Viele Richtungen stehen offen, alles ist möglich – oder auch nicht. Nichts ist akzentuiert, es ist eine Offenheit auf allen Ebenen des Seins. Wilhelm und Offermann betonen die Hingabe und Empfänglichkeit, die „Regenerationskraft der Erde“, ihr geduldiges Ausharren, bis etwas reift.
Urteil und Linientexte
Im Urteilstext ist die Stute, das weibliche Pferd, Sinnbild der Yin-Kraft. „Qián reitet als Drache durch die Himmel, kūn als Stute durchstreift die grenzenlose Erde“ (Wang Bi).
Licht und Schatten
Aufnahmebereitschaft, Hingabe und Geschmeidigkeit gehören zu den herausragenden Qualitäten von kūn. Hexagramm 2 besitzt ein untrügliches Gespür, was trägt, ein Vertrauen in den Reifungsprozess der Wesen. Dazu gehört die Fähigkeit, sich (an)leiten und beraten zu lassen, hinhören zu können. Kūn verfügt über ein ausgeprägtes instinktives Gefühlserleben. „Vieles ist offen“ verheisst eine Vielzahl an Möglichkeiten. Die „Mattscheibe“ als Dunkelseite: Passivität, Orientierungslosigkeit, Undifferenziertheit – man verliert sich im Nebulösen. Trägheit und Indifferenz. Ein Boot, führungslos sich selbst überlassen. Unfruchtbare Beziehungslosigkeit, Opferblindheit, Weltschmerz. Falsch verstandene Aneignung von Erfolgsmentalität, ein Rivalisieren mit „Siegertypen“, die zum Scheitern verurteilt ist.

屯
03 chún / Die Geburtswehen
kăn, das Wasser
zhèn, der Donner
Das Schriftzeichen
Nach traditioneller Auffassung stellt chún einen Sprössling dar, der bei seinem anfänglichen Wachstum aus der Erde auf ein Hindernis stösst. Dieses Verständnis geht auf den Ausdruck „nan sheng“ in der Überlieferung des Urteils im Sinn von „mit Schwierigkeiten gebären“ zurück. Gemäss Schilling ist chún verwandt mit dem gleichen Schriftzeichen „tún“, welches die Urbarmachung der Felder bezeichnet.
Die Trigramme
Erstmals begegnen und vermischen sich Yin und Yang: Von unten/innen bricht zhèn, die elektrisierende Kraft des Donners, hervor und entlädt sich in einem heftigen Gewitterregen, welcher alles zu überschwemmen droht (kăn steht sinnbildlich für Wasser, Abgrund und Gefahr). Ein alter Kommentar spricht von einem „trüben Gebräu, in welchem die Natur zur Gärung kommt“.
Grundbedeutung
Ein gigantischer Aufruhr als Folge des uranfänglichen Aufeinandertreffens von Yin und Yang. Der Akzent liegt im Aufeinanderprall zweier unterschiedlicher Prinzipien. Es sind Anfangszeiten, Werdezeiten: Nichts ist fixiert, Alles ist in Bewegung, erfüllend und verwirrend zugleich. Eine Fülle an Unbekanntem ringt um Gestaltung, etwas Neues will entstehen. Damit verbunden sind Unsicherheit, Angst, Schmerz – die Wehen einer Erstgeburt.
Urteil- und Linientexte
Wie heikel diese erstmalige Verbindung ist, wird in den Linientexten sowohl im Motiv der drohenden Trennung von Pferd und Wagen wie auch im Brauch des scheinbaren Brautraubes, der sowohl glücklich wie auch „in Blut und Tränen“ enden kann, deutlich. Das Yijing rät, in solch spannungsgeladenen Zeiten abzuwarten, nichts zu überstürzen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Es sei von Vorteil, sich in einem geschützten Rahmen der Unterstützung von Freunden zu versichern. Es braucht eine „ordnende Hand, die die Übersicht behält“, damit die Dinge nicht aus dem Ruder laufen. Alleingänge sind zu vermeiden.
Licht und Schatten
Kreatives Chaos kann zu etwas völlig Neuem, noch nie Dagewesenem, führen – sofern es denn klappt! Die Gefahr ist gross, all dem Aufbrechenden nicht mehr gewachsen zu sein, die Schmerzen der Geburt nicht mehr zu ertragen oder vom Strudel der Ereignisse überschwemmt zu werden. Vor lauter Aufruhr könnte der Prozess des Werdens zur Strecke kommen, eine Totgeburt nicht ausgeschlossen. Offermann warnt zudem vor dem naiven Optimismus des Anfängers und Draufgängers, der leicht zu Übergriffen und Vergewaltigung führen kann.

蒙
04 méng / Jugendliche Unbekümmertheit
gèn, der Berg
kăn, das Wasser
Das Schriftzeichen
Méng bedeutet ursprünglich „bedeckt, trüb, verdunkeltes Licht“. Als Pflanzenname bezeichnete es nach Waley und Legge den parasitären Teufelszwirn. Schilling vermutet, dass das Zeichen auf einen in ein Tierfell gehüllten Schamanen zurückgeht. Seit der Han-Zeit wurde méng als „unwissend“ verstanden. Qiméng, „das Bedeckte öffnen“, ist ein alter Ausdruck für „den Geist erhellen“. Eines der derzeit ältesten Fragmente aus dem 3. Jh.v.Chr. (Shanghai Museum Zhou Yi, das Bambusmanuskript aus Chu) betitelt interessanterweise das Hexagramm mit „mang“, einem ganz anders geschriebenen Zeichen, welches auf einen struppigen, zotteligen Hund verweist (ein Bild für einen „ungebärdigen, wilden Jungen“?).
Die Trigramme
Am Fuss des Berges entspringt eine Quelle. Der junge Bergbach hat seinen Weg erst noch vor sich. Ein Bild unverdorbenster Frische. Zugleich verweist die Stellung der Trigramme auf das Wesen des Lernens: Oben/aussen steht gèn als natürlich anleitende, disziplinierende Autorität und Konzentrationsfähigkeit. Im Innern des Schülers strömt das fliessende Wasser von kăn als Symbol von Sensibilität und Bewegtheit, das die Entwicklung der Wahrnehmungs- und Lernfähigkeit weckt (von Flüe).
Grundbedeutung
Das aus dem Berg hervorsprudelnde Wasser evoziert Frische und Unbekümmertheit. Ein treffendes Bild der Vorzüge, die dem Jugendlichen Erfolg versprechen. Sehr zum Ärger der erfahrenen, dogmatischen Alten und Weisen gelingt es ihnen weitaus besser, Verständnis für Neuerungen und Trends aufzubringen und dem Zeitgeist entsprechend zu handeln. Den Jungen scheinen alle Türen der Welt offen zu stehen.
Urteil- und Linientexte
Das Urteil betont das klassische asiatische Lehrer-Schüler-Verhältnis: „Nicht ich suche den Schüler, der Schüler sucht mich“. Bereits Wang Bi (3. Jh.) verwies dabei auf die Wichtigkeit der Beziehung zwischen Lehrendem und Lernendem für einen gelingenden Lernprozess. Die Linientexte erläutern die verschiedenen Entwicklungsstadien, sowohl aus Sicht des Meisters (Yang auf zweitem und sechstem Platz), wie aus jener des Schülers (Yin auf erster, dritter, vierter und fünfter Stelle).
Licht und Schatten
„Frisch von der Leber weg“ – durch Spontaneität, Unbeschwertheit, Experimentierfreude, Abenteuerlust und Verrücktheiten entdeckt der junge Mensch die Welt, lust- und leidvoll. Offermann sieht die Schattenseiten der Naivität: Unreife, pubertäre Trotzreaktion und besserwisserische Aufgeblasenheit. Generell warnen die Texte zu diesem Hexagramm vor der Hilflosigkeit vor Hindernissen aufgrund von Unerfahrenheit und Unverstand („man steht vor einem Berg und weiss nicht wie weiter“). Es gilt, sich von kompetenter Seite beraten zu lassen (und die Empfehlung anzunehmen!).

需
05 xū / Das Warten
kăn, das Wasser
qián, der Himmel
Das Schriftzeichen
Xū in alter Schreibweise stellt Regen über einem grossen Mann dar. Es steht für „feucht, nass, durchnässt“. Minford übersetzt xū mit „Wolkenbruch“, nach Hertzer trifft jemand auf Regen, geht nicht weiter und wartet. In den ältesten Manuskripten (Mawangdui und Shanghai Museum Manuscript) wird das Zeichen als „ru“ gelesen. Dessen Deutungen gehen auseinander: Hertzer sieht darin eine kurze Seidenjacke, die von Beamten zum Winteropfer getragen wurde. Im Alten China war der Winter die Zeit der Ruhe und des Wartens.
Die Trigramme
Die Stellung der Trigramme zeigt Wolken (kăn), die am Himmel (qián) aufgezogen sind und Regen versprechen. Der Charakter der Trigramme liefert zudem einen Hinweis, auf welche Weise „gewartet“ werden soll: Innere Stärke (qián) vor äusserer Gefahr (kăn) bleibt gelassen und überstürzt nichts, während Schwäche in Aufregung gerät und deswegen Unheil anrichtet.
Grundbedeutung
„Warten bedeutet nicht, nichts zu tun. Es heisst, sich auf die Zukunft vorzubereiten“ (Minford). Es ist ein aktives Warten in dem Sinn, dass die Kräfte gebündelt werden müssen, um einer existentiellen Herausforderung zu begegnen. Eigentlich möchte etwas Bedeutsames geweckt werden (die drei Yang des Himmels drängen, möchten vorwärts), es ist wie ein Zustand vor der Geburt, doch es sind Widerstände da, die einen Halt erzwingen. Diese verursachen die Not des Wartens (von Flüe).
Urteil- und Linientexte
Damit das Wagnis der „Durchquerung des grossen Wassers“ unternommen werden kann, muss weiter gerungen, verdichtet und angereichert werden – ohne Garantie der Ankunft am anderen Ufer (von Flüe). Die Linientexte illustrieren unterschiedliche Szenarien und Stadien des Wartens.
Licht und Schatten
Kăn ist eine Barriere, die vorerst nicht überwunden werden kann. Es kann sehr verschieden sein, was sich ändern muss, bis es wieder vorwärts geht. Die Gewissheit, einer Sache sicher zu sein, ist wesentlich, um ruhiges, konzentriertes Innehalten und bewusste Zurückhaltung aufbringen zu können. Gefordert ist Gelassenheit: Die Dinge müssen noch einmal unter die Lupe genommen werden. Lässt man sich jedoch aus dem Häuschen bringen und verliert die Geduld, ist die Chance gross, frustriert aufgerieben zu werden. Oder man vertrödelt wichtige Vorhaben so lange, bis der Glaube daran erlischt. Im schlimmsten Fall drohen Selbstaufgabe und Selbstverleugnung.

訟
06 sòng / Der Streit
qián, der Himmel
kăn, das Wasser
Das Schriftzeichen
Sòng steht für den Streitfall, der vor Gericht entschieden werden muss. Schilling sieht in der Auflehnung und Abtrünnigkeit gegen einen Herrscher die Ursache eines (mythologischen?) Konflikts, Waley denkt an Auseinandersetzungen bei der Verteilung von Kriegsbeute und Gefangenen als Ursprung von sòng.
Die Trigramme
Das Thema leitet sich von der divergierenden Dynamik der Trigramme ab. Die drei Yang des Himmels streben in die Höhe, die unten/innen fliessenden Wasser strömen abwärts. Die beiden Kräfte entfernen sich mehr und mehr, werden einander fremd. Argwohn und Misstrauen nisten sich ein, Differenzen und Konflikte entstehen. Eine andere Deutung der Stellung der Trigramme gibt Minford: Die Stärke des Himmels versucht das untere Trigramm zu kontrollieren, während die in kăn lauernde Gefahr qián zu überwältigen droht.
Grundbedeutung
Man will selbstbewusst voran, fühlt sich aber in seinem guten Recht behindert. Konfrontationen neigen dazu, mit Gewalt und (Hinter)List ausgetragen zu werden. Angesichts des zerstörerischen Potenzials ist Kompromissbereitschaft das drängende Anliegen dieses Hexagrammes.
Urteil- und Linientexte
Der Urteilstext rät, „den grossen Mann aufzusuchen“: Eine unabhängige Instanz, ein Schiedsgericht muss den Streitfall prüfen und schlichten. Mit Ausnahme des Yang auf fünftem Platz (einem sowohl mächtigen wie neutralen Richter) variieren sämtliche Linientexte die Unmöglichkeit und Schädlichkeit, eine Sache durchzuboxen.
Licht und Schatten
Die drei kämpferischen Yang des Himmels mögen noch so sehr überzeugt sein, Recht zu haben. Doch zeugt es von wahrer Grösse, dieses „Recht“ nicht mit Gewalt durchzusetzen. Die alten daoistischen Meister betonen: Jede/r prüfe zuerst sich selbst – innere Balance bleibt nur durch Besonnenheit gewahrt! Wird die Auseinandersetzung jedoch bis zum Äussersten ausgetragen, sind Krieg und Blutvergiessen des folgenden 7. Hexagrammes unvermeidlich.

師
07 shī / Die Armee
kūn, die Erde
kăn, das Wasser
Das Schriftzeichen
Das Zeichen shī besitzt eine lange Geschichte. Bereits auf Orakelknocheninschriften steht es für eine bewaffnete Truppe, ihren Abteilungen, dem militärischen Camp mit den gehissten Flaggen, Manövern und ihren Anführern. Jagd, Kriegsführung, Opfergaben – auch Menschenopfer – waren eng verknüpft und gehörten in einen unverzichtbaren rituellen Kontext der Shang und frühen Zhou (ca. 11.-7. Jh.v.Chr.). Anspielungen an diese Praktiken finden sich verstreut in vielen Textfragmenten des Yijing wie in reichlichen archäologischen Zeugnissen dieser Zeit.
Die Trigramme
Nach traditioneller Lesart symbolisiert die Stellung der Trigramme das in der Erde verborgene Grundwasser. Ebenso unsichtbar in Friedenszeiten ist das in einer Menschenmenge innewohnende Potenzial an Aggressivität und Wehrkraft. Wilhelm sieht in der Eigenschaft der beiden Trigramme – innen Gefahr, aussen Gehorsam – das Wesen des Heeres.
Grundbedeutung
Shī ist die in einem organisierten Verbund spürbar vorhandene Macht. Gleichzeitig warnt das Hexagramm davor, diese Energie in gefährliche Unternehmungen umzusetzen. Eine grosse Ansammlung von Menschen (die Yin) benötigt eine integre und erfahrene Persönlichkeit (Yang auf zweitem Platz), die sie führt. Die Disziplinierung der latenten Zerstörungskraft dieser Masse ist oberstes Gebot. Der verantwortliche Umgang mit diesem aggressiven Potential ist die grosse Aufgabe von shī. Nach Offermann darf die Armee nur im äussersten Notfall (bsp. zur Verteidigung) eingesetzt werden. Die Leitlinie muss immer heissen: Wie sind kriegerische Auseinandersetzungen zu verhüten und zu vermeiden?
Urteil- und Linientexte
Die Wahl eines fähigen und loyalen Heerführers (der „starke Mann“ des Urteils bzw. der General der zweiten Linie) – der das volle Vertrauen von Volk und Regierung (dem Yin auf fünftem Platz) geniesst – ist ein wichtiges Kriterium, um den anspruchsvollen Erfordernissen gerecht zu werden.
Licht und Schatten
Es gilt, sich zu wappnen. An die Waffen! Alarm! – gua 7 fordert absolute Wachsamkeit und eine wehrhafte Kraft, die einem nötigenfalls zur Verfügung stehen muss. Man muss damit rechnen, in Kämpfe verwickelt und attackiert zu werden (von Flüe). Im besten Fall glückt die Auseinandersetzung und der Zwist wird befriedet. Katastrophal wäre ein Kontrollverlust, der endlose Scharmützel, Gewaltexzesse, Plünderungen und Brutalität nach sich ziehen würde. Die Errichtung einer militärischen Diktatur, geprägt von Zwang, Sturheit, Willkür und der Verankerung von Feindbildern ist nur eines unter vielen Horrorszenarien.

比
08 bǐ / Der Zusammenschluss
kăn, das Wasser
kūn, die Erde
Das Schriftzeichen
Bǐ ist beispielhaft für die Mehrdeutigkeit und den Bedeutungswandel der alten chinesischen Schriftzeichen. Es stellt ursprünglich zwei Menschen dar, die eng hintereinander stehen, woraus sich „eng und nahe vertraut“ ergibt. In den Orakelknocheninschriften der Shang- und frühen Zhou-Zeit (um 1100-770 v.Chr.) bezeichnete bǐ die wechselnden politischen Allianzen und Bündnisse. Ausserdem wurde das Zeichen für die Aufstellung von Gefangenen – Seite an Seite – vor der Hinrichtung verwendet. Im heutigen Sprachgebauch wird bǐ als Nebeneinanderstellen bzw. als Vergleich zweier Dinge oder Personen verstanden.
Die Trigramme
Wasser auf der Erde fliesst immer zusammen, kleine Bäche in einen Fluss, Flüsse zu Strömen, Ströme münden ins Meer.
Grundbedeutung
Hexagramm 8 umschreibt den inneren und äusseren Zusammenhalt einer Interessengemeinschaft. Um die leitende Instanz des Yang auf fünftem Platz sammeln sich fünf Yin. Ein klarer geistiger Standpunkt, ein Leitgedanke, der die Kräfte bündelt und bewusst einen bestimmten Weg geht. Dieses Yang benötigt einen „klaren Kopf“, will es diese Gleichgesinnten ohne jeglichen Druck erfolgreich führen (die von der Sache überzeugt und aus freien Stücken gerne dabei sind).
Urteil- und Linientexte
Das Urteil sieht das Heikle dieser Führungsaufgabe und appelliert an den Ratsuchenden, sich zu vergewissern, ob er/sie den Anforderungen gewachsen fühlt. Die einzelnen Linien kommentieren die zwei möglichen Perspektiven: Bin ich derjenige, der die Sache in den Griff nimmt, oder bin ich bloss Zuschauer, der sich einfach angesprochen fühlt.
Licht und Schatten
Nähe und Vertrauen als Fundament, auf dem die Dinge wachsen können. Ein freudvolles Beieinander und Miteinander – alle ziehen am gleichen Strick als positive Auswirkung eines guten Leitungsteams. In der Praxis zeigt sich die Qualität von 8 oft nüchtern-realitätsbezogen: Sorge zu tragen, ein entscheidungsfähiges Individuum zu bleiben, Klarheit und Urteilskraft zu wahren und sich nicht auf ein Hin und Her einzulassen (von Flüe). In einer zwischenmenschlichen Beziehung stellt sich ein grosses Ungleichgewicht dar: Die fünf Yin sind wie Schulmädchen, die ihren Lehrer anhimmeln. Zum wunden Punkt gehört undifferenziertes Mitläufertum, eine Mésalliance, ein Nicht-dazugehören als Defizit. Unwille und Unfähigkeit, sich vertrauensvoll auf etwas einzulassen. Auf der anderen Seite steht der Vertrauensmissbrauch des führenden Yang.

小畜
09 xiao chù / kleine Einschränkungen
xùn, der Wind
qián, der Himmel
Die Schriftzeichen
Die ursprüngliche Bedeutung von xiǎo chù dürfte mit der Aufzucht von Haustieren und der Kultivierung von Land zu tun haben. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung des Regens im Urteilstext – „dichte Wolken, kein Regen aus dem Westen“ zu verstehen. Wie wichtig der Regen für das Wohl einer alten agrarischen Gesellschaft war, kommt deutlich in den unzähligen Anfragen der Orakelknocheninschriften der Shang zu diesem Thema zum Ausdruck.
Die Trigramme
Der Wind am Himmel treibt Wolken zusammen. Regen wird angekündigt, welcher jedoch noch nicht eintrifft. Es ist eine Verzögerung, die den Vorwärtsdrang der drei Yang des Himmels bremst. Auch wenn dies unwillige Reaktionen hervorruft, am bändigenden Yin an vierter Stelle kommen sie nicht vorbei. In positiver Lesart repräsentieren die Trigramme einen Zustand, in dem es gelungen ist, die Stärke von qián dem sanften Einwirken des Yin unterzuordnen und dessen Dynamik zu lenken (Hertzer). Doch erzeugen xùn und qián grundsätzlich eine Gegensatzspannung, die im Kernhexagramm 38, der Gegensatz, zusätzlich betont wird.
Grundbedeutung
Das entscheidende Yin auf viertem Platz wird zur substantiellen Kraft. Dieses tritt dämpfend der „Yang-Power“ entgegen. Glückt die „Zähmung der Wildpferde“ (der Yang des Himmels), so werden Kraft und Ausdauer veredelt – der ungezügelt-wilde Hengst wird zum edlen Pferd. Dies kann nur gelingen durch Sanftheit und Geduld. Manchmal braucht es wenig, damit eine Situation unter Kontrolle ist. Häufig ist es aber eher so, dass wir uns zusammennehmen müssen, um verständnisvoll auf die vielleicht nervende Yin-Gefährtin einzugehen: Sie ist „das Sand im Getriebe“, die Schwachstelle, die Verzögerung im vorwärts gerichteten Lauf der Dinge.
Urteil- und Linientexte
Nach Schilling beziehen sich der Urteilstext „dichte Wolken aus dem Westen, die noch keinen Regen bringen“ auf das Fruchtbare, das erst noch reifen muss: Dahinter verberge sich die Geschichte der Verbindung von König Wen – dem legendären König der Zhou – mit einer Prinzessin der Shang (seinen potentiellen Rivalen), die ohne Nachwuchs blieb. Erst die Heirat mit Tai Si, einer Zhou, beschert ihm Nachkommen.
Licht und Schatten
Angesichts der Störfaktoren, Unzulänglichkeiten und Unannehmlichkeiten müssen grosse Pläne und Aufgaben vorerst zurückgestellt werden. Es ist die Zeit der kleinen Erledigungen, der Vorbereitung, dem Feilen an Details. Es hat keinen Sinn, sich aufzureiben, man muss sich „in den Hintern klemmen“, speziell die schwachen Punkte beachten, Schritt für Schritt weitermachen und immer wieder kontrollieren (Offermann). Der konfuzianische Gelehrtenbeamte, „der Edle“, an den sich das Yijing vielfach richtet, möge sich zurücknehmen und weiter an sich arbeiten. Die Grenze des Erträglichen darf jedoch nicht überschritten werden. Ein Übermass an Verständnis brächte nur die graue Langeweile des Allzu-Vernünftigen, einen Verlust an Vitalität und Lebensfreude mit sich. Ständige Störfaktoren müssen irgendwann ausgeräumt, es dürfen keine beschämenden Dauerprovisorien beibehalten werden.

履
10 lǔ / das Auftreten
qián, der Himmel
dùi, der See
Die Schriftzeichen
Das Mawangdui-Manuskript enthält anstelle von lǔ die Lehnschreibung li. Li ist die Verehrung und die Opfer an die Geister und Ahnen, um Reichtum und Glück zu erlangen (Hertzer). Die Orakelknocheninschriften der Shang (11. Jh.v.Chr.) belegen eindrucksvoll die zentrale Bedeutung von li: Durch das Orakel, eingebettet in eine Zeremonie, kommunizierte der König mit den Ahnen. Für ein erfolgsversprechendes Handeln waren ihre Zustimmung oder Ablehnung massgebend. Im Konfuzianismus wird später die korrekte Ausführung von li im Sinne des „richtigen rituellen Auftretens“ zu einem staatstragenden Konzept entwickelt.
Die Trigramme
Es prallen extrem unterschiedliche Kräfte aufeinander: Das Leichte und Heitere von dùi trifft auf die Härte von qián. Es bedarf eines „Puffers“, einer neutralisierenden Zone in Gestalt eines höflichen, anständigen Umgangs mit dem Gegenüber. Der hochkarätigen Tiefe des Himmels tritt ein Stück spielerischer Leichtigkeit entgegen (von Flüe). Die angemessene Art des Auftretens richtet sich nach der Stellung der Trigramme: Indem „das Kleine Unbeschwerte und Fröhliche“ (dùi) ungekünstelt und mit einer Prise Humor dem „Grossen Starken“ (qián) gegenübertritt, reizt es dieses nicht. Die Konstellation erinnert an den mittelalterlichen Hofnarren. Er allein vermag dem Fürsten mit Andeutungen, Witz und Augenzwinkern auf Missstände aufmerksam zu machen – doch es ist und bleibt ein Risiko.
Grundbedeutung
In lǔ geht es um die Kunst des Auftretens bzw. um Sozialkompetenz: Wie kommuniziere ich mit der Welt? Welche Haltung nehme ich ein, welchen Weg will ich gehen? Wie präsentiere und drücke ich mich aus? C.G. Jung spricht vom „Anpassungssystem der Persona“, dank welchem wir mit der Welt pfleglich verkehren. Dadurch vermögen wir miteinander zu kommunizieren und zu koexistieren.
Schwaches tritt auf Starkes – gua 10 spiegelt oft eine Situation, von der man sagen kann, „uuh! Das wird heiss!“ In der rechten Form angebahnt, kommt es gut, aber spassen lässt sich damit nicht. Nimmt man die Konstellation auf die allzu leichte Schulter, kann dies ins Auge gehen. Eben ist man nichts Böses ahnend umher spaziert, doch plötzlich wurden schlafende Hunde geweckt. Dieses „auf etwas stossen“ ist unbeabsichtigt und geschieht unvermeidlich (von Flüe).
Urteil- und Linientexte
Offermann betont die Wichtigkeit von innerer und äusserer Sozialisation: „Es ist ein riskantes Unternehmen, ‚auf des Tigers Schwanz zu treten’ (Urteil). Ein Dressurakt? Ja, ausgeführt am Tiger in uns selbst. Gelingt die Anpassung, beisst er nicht, sondern lässt gutwillig gefallen. Bist du aber ‚einäugig und lahm’ (wie das Yin auf drittem Platz), will heissen unangepasst, taktlos, wenig gesellschaftsfähig, bekommst du den Tiger zu spüren. Du würdest abgelehnt, unbeachtet, angefeindet werden. Es bedarf der Einsicht und Akzeptanz in gewisse Umgangsformen und Mechanismen der Welt“.
Licht und Schatten
Viele Gefährdungen im Leben überstehen wir dank einer Mischung aus Glück, Sorglosigkeit, Naivität, Heiterkeit und Demut – währenddem die Frecheren, Aufmüpfigeren viel mehr abbekommen (von Flüe). Dem heiter-beschwingten Naturell öffnen sich die Türen leichter; er/sie versteht es, ein Anliegen elegant vorzutragen. Keinesfalls verträgt lǔ Unbescheidenheit, Anmassung und (Selbst)Überschätzung. Ein übersteigertes, unnatürliches oder rabaukenhaftes Auftreten hätte Folgen: Der Tiger würde so lange beissen, bis er/sie ein Minimum an Umgänglichkeit lernt. Das Gegenstückist heisst ängstliche Überanpassung, die stete Sorge, was wohl die Andern denken mögen. Ein Verlust von Persönlichkeit und Eigenständigkeit.

泰
11 taì / die Harmonie
kūn, die Erde
qián, der Himmel
Das Schriftzeichen
Taì ist das Grosse und Wertvolle, welches durch eine harmonische Balance erreicht wird. Es ist das Gegenstück zu pǐ, dem Kleinen und Nichtigen des folgenden Hexagrammes 12.
Die Trigramme
Bereitwillig nehmen die Yin der Erde den himmlischen Reichtum der Yang in sich auf. Die kreative Dynamik des Himmels stösst auf empfänglichen, fruchtbaren Boden.
Grundbedeutung
Obwohl im Grunde divergierende Kräfte, befruchten sich in dieser Konstellation Himmel und Erde auf harmonische Weise. Es ist eine Zeit der Ausgeglichenheit, des Gedeihens und der Toleranz. Geist, Seele und Körper sind „miteinander im Verkehr“, Kopf und Herz stimmen überein. Hellmut Wilhelm betont, in den frühen Schichten des Yijing werde Harmonie nicht als statisches Paradies, sondern in erster Linie als erstrebenswerten Zustand verstanden. Denn klar ist, eine solche Friedfertigkeit ist nicht von ewiger Dauer.
Urteil- und Linientexte
„Das Kleine geht fort, das Grosse kommt her“ des Urteils verweist auf Grosszügigkeit und Nachsicht. Über die kleinen Ärgernisse des Alltags geht man locker hinweg, die üblichen Sorgen und Ängste sind weggeblasen und belasten nicht mehr. Doch die Mahnung der dritten Linie soll nicht vergessen werden: „Auf jede Ebene folgt ein Abhang, auf jedes Vorwärtsgehen eine Rückkehr. Beklage dich nicht über diese Wahrheit, geniesse das Glück, das du noch hast.“
Licht und Schatten
Volle Akzeptanz eines anders funktionierenden Gegenübers. Durch die Zusammenarbeit unterschiedlichster Charaktere wird Kreativität geweckt. Pläne und Ideen sollen auf den Tisch. Das Bestmögliche wird erreicht, irgendwann später kommt es zu Blockaden. Man soll sich dies vormerken, jedoch darob nicht verzagen (Offermann). Die Gefahr solch einträchtiger, friedlicher Zeiten: Man wird träge, dämmert vor sich hin und verliert das Ziel aus den Augen. Nachlässigkeiten, Schlampereien und Unaufmerksamkeiten stellen sich ein.

否
12 pǐ / die Blockade
qián, der Himmel
kūn, die Erde
Das Schriftzeichen
Pǐ könnte nach Schilling ursprünglich ein durch ein falsches Opfer verursachtes Verhängnis bedeuten. In alten Texten werde das Zeichen als ‚fu’ gelesen und bezeichne etwas Nichtiges oder Falsches. In diesem Sinn wird pǐ auch im heutigen Sprachgebrauch verwendet: Es ist die Verneinung, das Nichts, die Negation schlechthin. Im Gegensatz zum Textus receptus betitelt das Mawangdui-Manuskript dieses Hexagramm mit einem anders geschriebenen Schriftzeichen für fu, welches nach Hertzer eine „mächtige, verheiratete? Frau“ darstellt. Handelt es sich dabei nicht nur um eine Lehnschreibung von pǐ, so würde uns die Mawangdui-Version einen völlig neuen Aspekt dieses gua zeigen: Heirat und Heiratsritual.
Die Trigramme
Die Dynamik der Trigramme ist jener des vorangehenden gua 11 entgegengesetzt: Beide entfernen sich voneinander. Die drei Yin der Erde ziehen sich zurück, schliessen sich ein. Die Yang des Himmels jedoch streben aufwärts in die Höhe und isolieren sich.
Grundbedeutung
Die Zeit, in der sich unterschiedliche Kräfte und Energien gegenseitig befruchteten, ist vorbei. Der Kontakt reisst ab, das Verständnis für eine andere Position wird zusehends schwieriger. Ein Auseinanderdriften, eine Entflechtung findet statt. Der (Wirtschafts)Motor kommt ins Stottern, Entwicklung ist ins Stocken geraten.
Urteil- und Linientexte
„Das Grosse geht hin, das Kleine kommt her“ des Urteils – auch hier spiegelbildlich zum Urteilstext von gua 11 – verweist auf den Abwärtstrend und den in solchen Zeiten auftretenden zwielichtigen Machenschaften und Gestalten, denen sich „der Edle durch Rückzug“ (Bildtext) entziehen muss.
Licht und Schatten
Die Dinge laufen auseinander, Missverständnisse und Stagnation setzen ein. Das I Ging rät, sich davon nicht vereinnahmen zu lassen, sich zu distanzieren und abzuwarten, bis sich die Blockaden wieder lösen (davon sprechen die vierte, fünfte und sechste Linie). Die schlimmsten Folgen dieses Niedergangs und Abwärtstrends: tiefe Enttäuschung und Verletzung, Resignation, Beziehungslosigkeit und –abbruch.

同人
13 tóng rén / die Gemeinschaft
qián, der Himmel
lí, das Feuer
Die Schriftzeichen
Tóng rén bedeutet wörtlich „Männer, die sich vereinen“, die eine Gemeinschaft bilden.
Die Trigramme
An einem Feuer unter freiem Himmel treffen Gleichgesinnte zusammen. Die Yin-Linie auf zweitem Platz, eine wahre Sympathieträgerin, versammelt alle Yang um sich herum. Es ist eine emotionale Verbindung, die aus dem Bauch heraus erfolgt.
Grundbedeutung
„Gleich und gleich gesellt sich gern“: Gemeinsamkeit auf emotionaler Ebene, ein Treffen in lockerer Atmosphäre. Man fühlt sich (seelen)verwandt, weil man mit dem Herzen einem gleichen Anliegen verbunden ist, das eint. Wie Kinder, die allein aus Lust am Spiel zueinander finden. Gibt es jedoch Streit, löst sich dieses Band schnell.
Urteil- und Linientexte
In den Linientexten kommt der ursprünglich militärische Kontext einer Gemeinschaft zur Sprache: Es geht um die Aushebung und Vorbereitung der Kampfgefährten (auf Befehl des Herrschers) zur Abwehr vor einem erwarteten Angriff, von Ritualen und (Sieges)Feiern vor und nach einem Feldzug (Rutt, Schilling, Minford).
Licht und Schatten
Solange der Gemeinschaftssinn, der ‚common sense’ oder die Übereinkunft einer Interessengemeinschaft im Vordergrund steht, ist alles bestens. Dieses schöne Bild der spontanen Geselligkeit verdüstert sich jedoch schnell (wie die Linientexte zeigen), sehr bald beginnt es in Vereinen zu menscheln: Cliquenbildung, Mauscheleien und Intrigen setzen ein. Ohne das Verbindende von gua 13 ist eine Ehe nicht möglich, doch auf einem langen Weg zweier Menschen reicht die Qualität von 13 allein nicht aus, da braucht es mehr.

大有
14 dà yǒu / der Reichtum
lí, das Feuer
qián, der Himmel
Die Schriftzeichen
Dà yǒu, Besitz von Grossem, wird in der Mawangdui-Version nur durch den Beistand der Götter ermöglicht. Als untrügliches Zeichen für die Zustimmung des Himmels für einen Herrscher galt eine reiche Ernte, erfolgreiche Feldzüge, Annahme der Opfergaben durch die Ahnen und Kindersegen (Hertzer und Schilling).
Die Trigramme
Das Licht der Sonne erstrahlt am Himmel – die „Zehntausend Wesen“ werden erhellt. Gua 14 liefert ein Bild der Reife und Kultivierung: Das sanft-beherrschende Yin an zentraler Stelle (dem fünften Platz) verfeinert und veredelt die Potenz der Yang. Die Verwandtschaft mit Hexagramm 1 ist augenfällig. Nur wird hier der Mensch durch eben jenes Yin auf subtilere, hintergründigere Weise zu einem Gefäss, welches durch Inspiration aufnimmt und diese weitergibt. Frühe Manuskripte betiteln das obere Trigramm alternativ mit luo, dem Netz. Gua 14 kann dann verstanden werden als „ein über dem Himmel ausgebreitetes Netz, das einen grossen Fang beinhaltet“, einem Bild der Fülle und des Überflusses (Minford).
Grundbedeutung
Als innerer Reichtum ist dà yǒu eine erfüllende, bereichernde Grundlage, die weder „gegeben noch genommen“ werden kann. Ein geglückter Bezug auf Inhalte, auf die es wirklich ankommt (von Flüe). Es sind die Begabungen und Talente einer Persönlichkeit, die ihre Fähigkeiten auch anzuwenden weiss. Nach alter chinesischer Tradition ist hier das Ideal des daoistischen Weisen gezeichnet, der von der Welt unerkannt, doch mitten in ihr lebt. Hellmut Wilhelm sieht in gua 14 eine gesegnete Situation, die durch bewusste Zurückhaltung voll ausgenützt werden kann.
Urteil- und Linientexte
In den Linientexten wird deutlich, dass unterhalb des hohen Niveaus der fünften Linie der „Besitz von Grossem“ nicht leicht zu handhaben, zu verwalten oder zu vermehren ist.
Licht und Schatten
Uneigennützigkeit und Zurückhaltung als Ausdruck einer reifen (und im besten Sinn aristokratischen) Haltung. Vermögen im grossen Stil – sowohl als Können wie auch als materieller Besitzstand (Offermann). In einer Organisation gewinnt ein vorurteilsfreier, aufgeschlossener Führer (Yin) den vollen Respekt und die Unterstützung seiner Kollegen (Yang). Die Gefahr von gua 14 besteht in einem „Verfetten“ der Substanz, einer Tendenz zu Sättigung und Trägheit. Die Dunkelseite: Eitelkeit, Stolz, Selbstgefälligkeit und die Arroganz der Begüterten.

謙
15 qiān / die Demut
kūn, die Erde
gèn, der Berg
Das Schriftzeichen
Qiān ist noch heute das übliche Wort für Bescheidenheit und Demut. Verbunden mit xu (wörtlich „leer“) ist qiānxu der „leere HerzGeist“ einer Persönlichkeit, die frei ist von Egoismus, Verlangen, Begehren und Zerstreuung. Kunst und Rutt sehen in qiān eine Lehnschreibung des gleichlautenden Wortes für den Grossen Grauen Hamster. Das vor allem im nördlichen China verbreitete Nagetier wurde in alten Zeiten wegen seiner Unersättlichkeit gefürchtet. Hertzer dagegen verweist auf die Tatsache, dass in frühen Texten das Zeichen häufig im Zusammenhang mit Vögeln gebraucht wird und denkt deshalb an eine ursprüngliche Bedeutung „von etwas im Mund halten“.
Die Trigramme
Der majestätische Berg, Sinnbild eines lebenspendenden Zentrums, hat sich unter, oder besser in die Erde begeben. Das einzige starke Yang auf „bescheidenem“ dritten Platz vermag aus innerer Sammlung alle Yin an sich zu binden.
Grundbedeutung
Nicht das Rampenlicht, sondern der Dienst an der Sache steht im Vordergrund. Anspruchslosigkeit, Selbstgenügsamkeit, Bescheidung – dieses Schlichte und Einfache ruft Achtung hervor. Bescheidenheit steht zwischen den Gegensätzen „Machtstreben“ und „Minderwertigkeit“ und gleicht diese aus. Durch einen gewissen Respekt (gegenüber Dingen wie Personen) wird das Ich in ein ausgewogenes Verhältnis zur Umwelt gebracht und entwickelt einen ausgeprägten Sinn für Realitäten.
Die in China hochgeschätzte Tugend von qiān ist eng verknüpft mit dem daoistischen Ideal des „wuwei“, des NichtHandelns. Ein wahrer Weiser bzw. Herrscher ist ein „unbewegt in sich ruhender Berg“, ein machtvoll ausstrahlender Mittelpunkt im Verborgenen. Eine Quelle, die „alles unter dem Himmel“ von selbst („ziran“) entstehen lässt und nährt.
Urteil- und Linientexte
Die besondere Wertschätzung von qiān zeigt sich in den überwiegend glückverheissenden Linientexten.
Licht und Schatten
Sie besitzt, als besässe sie nicht. Vermag sich völlig in ein Kollektiv einzuordnen. Auf persönliche Auszeichnung kommt es ihr nun wirklich nicht an. Tut sich nicht hervor, ist aber mit Engagement bei der Sache. Ihre Bescheidenheit verleiht ihr Würde und Anerkennung. Die Kehrseite liegt im nagenden Gefühl, „immer ein wenig zu kurz gekommen zu sein“. Unzufriedenheit wegen ärmlicher, einengender Verhältnisse, die der Entfaltung im Wege stehen.

豫
16 yù / die Begeisterung
zhèn, der Donner
kūn, die Erde
Das Schriftzeichen
Yù meint freudige Erregung, Hochstimmung. Ausserdem bezeichnet das Schriftzeichen in früher Zeit den Elefanten. Wie aus Grabfunden der Shang-Nekropolen hervorgeht, war der Elefant um das 1. Jahrtausend v.Chr. in Nordchina weit verbreitet. Schilling und Wen Yiduo deuten das Trompeten und Stampfen des Elefanten, nachgeahmt im Trommeln und Tanz, als Ankündigung vor hohen Opferfeiern. Die Mawangdui-Version enthält yù in einer anderen Schreibweise in der Bedeutung von „Überfluss“ und „Übermass“.
Die Trigramme
Der Donner, die erregende Kraft des Frühlings, bricht vehement aus der Erde hervor. Die Stärke des einzigen Yang auf viertem Platz, der Ebene des Herzens, ist Emotion pur und inspiriert alle anderen Yin.
Grundbedeutung
Freudige Erregung und Enthusiasmus stimulieren. Begeisterung zündet und regt zu spontanem Mittun an. Sie steht in auffallendem Gegensatz zur Sparsamkeit und dem haushälterischen Umgang des vorangehenden Hexagrammes 15. Begeisterung brennt, „gibt Gas“, inspiriert und befeuert. Gleichzeitig verzehrt und erschöpft sie diese Energie. Voraussetzung dieses emotionsgeladenen Wallens und Wogens ist Hingabe. Ohne Hingabe kann Begeisterung nicht aufkommen. Subjektivität überflutet Objektivität, ein blinder Flick ist immer dabei. Die Frage stellt sich: Was kann aus der Begeisterung werden? Ebbt sie doch nach kurzer Zeit ab: Was bleibt übrig? Ausserdem: Wer nutzt Begeisterung, und wie, auf welche Weise? – eine Frage, die keinesfalls übergangen werden sollte.
Urteil- und Linientexte
Der Bildtext weist auf Begeisterung im höchsten Sinn hin: „Die alten Könige machten Musik um die spirituellen Mächte zu ehren. Sie boten Glanz und Pracht den höchsten Gottheiten dar und opferten den Ahnen“. In der Ekstase des Tanzes und der Musik knüpft der Schamane ein Band zwischen dem Individuum und dem Numinosen. Die Linientexte betonen jedoch die Wichtigkeit der Unterscheidung von falschem und wahrem Enthusiasmus.
Licht und Schatten
Begeisterung kann Berge versetzen. Nahe dabei liegt Bestürzung: Jedes Wochenende geraten italienische Tifosi in Begeisterungsstürme, Wut und Trauer. Sie bringt Schwung und Elan, ist ein starker Impuls zum Anpacken einer Sache und vermag zu ungeteiltem Einsatz mitzureissen. Die Dunkelseite kennen wir (nicht nur aus der Geschichte) allzu gut: (Massen)Hysterie, Exzess, selbstgefälliges Geltungsbedürfnis, Verblendung. So etwa wird die aktuelle Werbung nicht müde zu versprechen, Emotionen seien käuflich! Nicht zuletzt in Stelleninseraten ist Begeisterungsfähigkeit eine gesuchte Grösse …

隨
17 suí / die Nachfolge
dùi, der See
zhèn, der Donner
Das Schriftzeichen
Nach Schilling bedeutete suí primär das Gefolge des Herrschers, in einem weiteren Sinn die Herrschaftsnachfolge. In den Orakelknocheninschriften (und einigen Linientexten dieses gua) tritt der kriegerische Kontext von suí deutlich hervor: Die Verfolgung und Jagd nach Beute und Gefangenen, die für die grossen Opferzeremonien der Shang und frühen Zhou benötigt wurden.
Die Trigramme
Das Erregende des Donners inmitten des Sees wühlt diesen auf. Wellen entstehen. Das feurige Element mischt sich mit Wasser jedoch nicht wirklich. Dieses kann sich seiner Natur gemäss nicht ungehindert auswirken und muss sich anpassen. Derselbe Gedanke kommt in der konfuzianischen Deutung der Trigramme nach Familienhierarchien zum Ausdruck: Zhèn, der „älteste Sohn“ stellt sich unter dùi, die „jüngste Tochter“, nimmt Rücksicht auf sie und bewegt sie dadurch zur Nachfolge. Nach Hertzer veranschaulicht die Stellung der Trigramme eine Situation, in der die Macht und Gefahr, wie sie etwa einem Frühlingsgewitter innewohnt, zwar vorhanden, aber noch verborgen ist.
Grundbedeutung
Wie ein Bergführer sich nach den Fähigkeiten seiner Seilschaft ausrichtet, muss sich ein Stärkeres einem Schwächeren anpassen. Spiele ich mit Kindern Fussball, gehe ich nicht voll drauf: Die Qualität des Yang misst sich daran, wie es auf die Bedürfnisse der Yin eingehen kann. Zwar wäre genug Kraft vorhanden, der Situation seinen Willen aufzudrängen, doch eben dies darf nicht passieren.
Offermann sieht in diesem Hexagramm die freundliche Aufforderung, mitzukommen. Ohne Herablassung unterstellt sich der stärkere dem schwächeren Partner. Die Yin dürfen aber nicht eine Führungsrolle beanspruchen, „den Starken spielen“ und überheblich werden. Die Konstellation von gua 17 bilde eher eine Ausnahme, die von beiden Seiten ein hohes Mass an Taktgefühl erfordert.
Nach von Flüe besitzt das Hexagramm zwei Etagen. Die untere Ebene orientiert sich am „Machbaren“, an den Möglichkeiten und Erfordernissen der Zeit. In der oberen Etage folge ich dem nach, was sich als geistiger Weg herausstellt.
Urteil- und Linientexte
Richard Wilhelm weist auf das „erhabene Gelingen“ des Urteils, welches Nachfolge im Ideal auszeichnet. Unabdingbare Voraussetzung dazu ist die Integrität sowohl der Yin wie der Yang. In den beiden obersten Linien werden Kraft und Inhalt so substanziell, dass Andere ihr aus freien Stücken nachfolgen.
Licht und Schatten
Sich vertrauensvoll führen lassen. Aus freien Stücken sich anpassen, nachfolgen und so vielleicht aus ungewohnter Perspektive neue Erfahrungen sammeln. Sich wahrhaft „hinunter begeben“ und Rücksicht nehmen bewegt automatisch zur Nachfolge. Geforderte Anpassung jedoch führt schnell zu Demütigung und erweckt Widerspruch. Auf tiefem Niveau stellen sich Orientierungsverlust, Nachahmungszwang und Servilität ein. Vorsicht ist geboten vor üblen Nachfolgern oder der Selbstauslieferung an unwürdige Naturen.

蠱
18 gu / die Wiedergutmachung
gèn, der Berg
xùn, der Wind
Das Schriftzeichen
Gǔ stellt den verdorbenen Inhalt einer Schüssel dar. Waley denkt an Maden in Opfergaben, die Verfall anzeigen. Schilling erwähnt eine besondere Form von Magie: Giftige Tiere werden in einem Gefäss gehalten. Diese töten einander. Dem letzten überlebenden Tier werden besondere Kräfte zugesprochen. Im schamanisch geprägten Weltbild des Alten China wird gǔ als Fluch der Ahnen verstanden, der auf den Nachkommen lastet. Anders als im Textus receptus betitelt das Mawangdui-Manuskript das Hexagramm mit dem Schriftzeichen „ge“. Dieses stellt Bambus- oder Schafgarbenstengel dar und ist somit eng mit dem Orakelprozedere des Yijing verknüpft. Durch das Auszählen der Stengel wird ein Hexagramm gebildet (Hertzer).
Die Trigramme
Der wehende Wind wird vom Berg aufgehalten. Das Sanfte von xùn und die Trägheit von gèn behindern einander. Stagnation tritt ein. In einem nicht durchlüfteten Raum wird es schnell muffig und stickig.
Grundbedeutung
Es ist ein schwieriges Vermächtnis, eine belastende Hinterlassenschaft, die den oder die Nachkommen auszubaden haben. Etwas ist verhockt und hat sich lange eingespielt. Die Kenntnis der Ursachen, die zum Verderben führten, sind unerlässlich für ein angemessenes Vorgehen. Es ist sorgfältig zu überlegen, wie eine Wiedergutmachung angegangen werden soll. Diese Aufgabe soll konsequent und im Bewusstsein der damit verbundenen Risiken vorangetrieben werden. Hexagramm 18 meint die Arbeit an unseren neuralgischen Punkten (von Flüe).
Urteil- und Linientexte
Die Linientexte fordern auf, die Fehler des Vaters oder der Mutter zu berichtigen. Dies geht nur unter grossen Anstrengungen – „das Grosse Wasser ist zu durchqueren“.
Licht und Schatten
Eine Reform tut not, eine Schuld soll aufgearbeitet werden. Aufrütteln aus Zuständen der Stumpfheit und Apathie. Vermeidung eines lethargischen „sich gehen lassens“ (Offermann). Die Aufarbeitung darf jedoch nicht übertrieben, ein Mittelweg zwischen „allzu radikal“ und „nur versuchsweise“ muss gefunden werden. Die Dunkelseite: Verharmlosung der Missstände. Halbherziges Vorgehen. Wiederholung der Fehler der Vergangenheit.

臨
19 lín / die Anregung
kūn, die Erde
dùi, der See
Das Schriftzeichen
Lín bedeutet nach alter Schreibweise „nach unten schauen“, davon abgeleitet „herangehen, sich nähern“ (Schilling). Weitere Lesarten von lín sind nach Rutt und Kunst verschiedene Formen des Trauerns wie das Wehklagen im Tempel. Wen Yiduo sieht in lín eine Lehnschreibung für „Wasser ausgiessen, regnen“. Im Mawangdui-Manuskript wird lín alternativ mit zwei nebeneinander stehenden Bäumen geschrieben. Dies evoziert den „Wald“ als eine Anhäufung bzw. Ansammlung von Bäumen (Hertzer).
Die Trigramme
Der See befindet sich innerhalb der Erde. Sie umgibt, nährt, schützt und lässt ihn „gross werden“ (Richard Wilhelm). Der selbe Gedanke kommt zum Ausdruck durch die beiden Yang-Linien, die von unten in das gua „hineinwachsen“ und dieses zur Blüte anregen.
Grundbedeutung
Ein hoffnungsvoller Anfang. Eine schwangere Frau, die in „guter Hoffnung“ ist. Konjunktur setzt ein, die Dinge verbinden sich wieder (lat. conjungere = sich verbinden). Hexagramm 19 besitzt eine ausgesprochene Zeitqualität: Es ist eine Welle, die jetzt an Land kommt und deren Wasser den Boden befeuchtet und befruchtet. Es ist ein Versprechen, ein Vorbote des nahenden Frühlings, mehr nicht. Damit lässt sich noch kein Staat machen. Nach Offermann beginnen Angebot und Nachfrage wieder zu spielen. Aus einem ersten Geschäft entsteht ein zweites, ein Kreislauf kommt in Gang.
Urteil- und Linientexte
Die Linien beschreiben die unterschiedlichen Stadien dieser einsetzenden Resonanz. Gelingt das Aufblühen, so wird ihm „erhabenes Gelingen“ (Urteil) beschieden.
Licht und Schatten
Ein erster Anstoss findet ein wohlwollendes Echo. Resonanz entsteht. Aus dieser Zunahme maximalen Gewinn ziehen, die Anregung ausschöpfen. Ein „crescendo“, ein Anschwellen, ein Aufblühen. Doch es ist und bleibt ein laues Lüftchen, jede Welle ebbt wieder ab. Die Gefahren: Das Boot vor der grössten Brandung abstossen und kentern. Überhastet ans rettende Ufer flüchten. Nach dem ersten Erfolg abheben. Die Annäherung verschlafen, dann ist es aus und vorbei. Aus Strukturlosigkeit die Chance verpassen.

觀
20 guān / der Überblick
xùn, der wind
kūn, die Erde
Das Schriftzeichen
Guān ist das Abbild eines Wachtturmes. Er dient nicht nur als Hochsitz des Spähens, sondern ist ebenso weithin sichtbar. Ausgehend von seiner ursprünglichen Bedeutung „forschend betrachten, etwas in Augenschein nehmen“ bezeichnet guān sowohl „das Gesehen werden“ wie auch „in Erscheinung treten“ (Hertzer). Legge sieht in guān ein Observatorium, eine Verbindungsstelle zwischen Mensch und Himmel. Dort prüfte der Hofastronom die himmlischen Zeichen – eine bedeutungsvolle Aufgabe im Alten China, dessen Kaiser im Mandat des Himmels herrschten (dieses Patronat konnte ihnen – im Idealfall – bei schlechter Regentschaft jederzeit entzogen werden).
Die Trigramme
Das Hexagramm ist aufgebaut wie ein Turm, von dessen Höhe der Blick über die Umgebung schweift. Die zwei Yang über den vier Yin bilden eine Plattform, einen Ort der Betrachtung. Die Trigramme selbst stellen das Wehen des Windes über der Erde dar. Diese bekannte Metapher steht für das Inspizieren des Landes und den damit verbundenen positiven Einfluss des Herrschers auf sein Volk (Schilling).
Grundbedeutung
Der Überblick aus erhöhter Warte. In geistiger Klarheit Zusammenhänge erfassen. Zusammenschau und Analyse (die Aktivität der Yang auf fünftem und sechstem Platz, der Kopfebene). Festigkeit und ein starkes Rückgrat gehören zu den Grundbedingungen dieses Hexagrammes. Gua 20 hat viel mit meditativer Kontemplation zu tun. Der Mensch ist ruhig, betrachtet, denkt nach.
Urteil- und Linientexte
Die Linien widerspiegeln unterschiedliche Qualitäten der Betrachtung: von kindlich-knabenhafter Anschauung über ein verstecktes Hervorspähen durch einen Türspalt bis zur sinnstiftenden Einsicht in Lebenszusammenhänge.
Licht und Schatten
Reife, Gesamtschau, Reflexion, (Selbst)Betrachtung. Einsicht aus übergeordnetem Standpunkt. Erweiterung des geistigen Horizonts, der Panoramablick. „Ein Nachschauen und Abklären, wie es den Leuten geht“. Die Kehrseite liegt in der Froschperspektive, dem Verlust der Übersicht und einem „weiter wursteln“ in Kurzsichtigkeit.

噬嗑
21 shì kè / der Strafprozess
lí, das Feuer
zhèn, der Donner
Die Schriftzeichen
Wahrscheinlich wurden die beiden Zeichen bereits in früher Zeit unterschiedlich verstanden. Schilling vermutet, dass shì kè das Zuschnappen von Tieren bedeutete. Dieses Zubeissen wurde später auf das Einzwängen eines Täters in Fussfesseln und Halskragen übertragen, eine im Alten China gängige Praxis der Bestrafung. Das Mawangdui-Manuskript betitelt dieses gua allein mit dem ersten Zeichen shì. Dieses bezieht sich auf die Notwendigkeit, in schwierigen Zeiten das Orakel (das Yijing) zu konsultieren (Hertzer).
Die Trigramme
Blitz und Donner erzeugen eine spannungsgeladene Konstellation, die sich in einem reinigenden Gewitter löst.
Grundbedeutung
Eine Verfehlung muss aufgedeckt und geklärt werden. Es braucht Klarheit und Entschlossenheit, Einsicht und Handeln – lí und zhèn – um verfilzte Machenschaften ans Licht zu bringen. Ein Prozess ist abzuhalten, Massnahmen müssen ergriffen, Strafen verhängt werden.
Urteil- und Linientexte
Die Linientexte betonen – trotz der Dringlichkeit des Intervenierens – die Fairness des Strafmasses, welches angemessen zu sein hat.
Licht und Schatten
Eine stockende Situation, einer hinterhältigen Mafia ähnlich, will verhindern, dass es zum Prozess kommt. Es braucht energisches Durchgreifen, nur dann kann ausgemistet werden. Es ist entscheidend, eine Sache durchzuziehen, „sich durchzubeissen“. Man darf sich keinesfalls zu schnell zufrieden geben, sich nicht beschwichtigen lassen. Dies ist nicht die Stunde für faule Kompromisse. Auf halbem Weg stecken zu bleiben oder die Dinge zu verschleppen, hiesse Mitverantwortung am Scheitern einer Klärung zu tragen.

賁
22 Bì/ die Schönheit
gèn, der Berg
lí, das Feuer
Das Schriftzeichen
Anfänglich stand bì für ein mit Mustern verziertes Tierfell (Schilling). Das Mawangdui-Manuskript verwendet nicht bì, sondern das Zeichen „fan“ als „üppig gedeihende Pflanze“. Hertzer glaubt, dass es sich dabei um eine Art der Artemisia handelt, die als Hilfsmittel zur Herstellung der Seide diente. Die Seide galt mindestens seit dem 1. Jahrtausend v.Chr. als ein begehrtes und wertvolles Handelsgut.
Die Trigramme
Unten/innen erhellt ein Feuer den Berg. Die beiden Trigramme versinnbildlichen die „ruhende Schönheit“: Innere Klarheit (lí) und Substanz (gèn) lassen Schönheit entstehen und würdigen. Ästhetik, Kunst und Kontemplation sind im Yijing nah verwandt.
Grundbedeutung
Die Erfahrung der Schönheit beflügelt und sensibilisiert. Schmuck und Verzierung – die angenehmen und schönen Dinge, die das Leben lebenswert machen. Daoisten wie Konfuzianern ist bì nicht ganz geheuer. Trotz ihrem Unbehagen am „schönen Schein“ eröffnet sich nur dem Feinschmecker die köstliche Welt der Gaumenfreuden. Mit anderen Worten: Beobachtung und Gefühl werden geschärft, verfeinert, differenziert. Sinn und Sinnlichkeit kommen im Idealfall zueinander.
Urteil- und Linientexte
In den Linientexten erscheinen Glanz und Zier in doppelter Gestalt, in redlicher und unredlicher Art. Einerseits sprechen sie von blosser Verzierung, dem Hang zum Dekorativen, von Verlockung und Verführung. Ganz zuoberst (im Yang des Berges) jedoch tritt uns die Strahlkraft und der Zauber des Venusischen in seinem schönsten Ausdruck entgegen (von Flüe). Rutt und Li Jingchi deuten die Linientexte im Kontext der Ausstattung einer Heiratsfeier.
Licht und Schatten
Kultivierung und Anmut im besten Sinn. Die Ästhetik der daoistischen Kommentatoren: Wahre Schönheit zeigt sich in unverfälschter, spontaner Natürlichkeit. Ausgewogenheit und unprätentiöse Darstellung von Form und Inhalt. Der schmale Grat von Sein und Schein: Werden sie allzu sehr verwechselt, wird es peinlich – die Hülle benötigt adäquaten Inhalt. Design in der Werbung: Wieviele Leute neigen nicht dazu, sich vom blossen Etikett verleiten zu lassen? Die Dunkelseite von bì: Kitsch, Genuss-Sucht, Geschmacklosigkeit.

剝
23 bō / die Zersplitterung
gèn, der Berg
kūn, die Erde
Das Schriftzeichen
Bō ist das rituelle Häuten bzw. Abschälen von Opfertieren. In einem weiteren Sinn bezeichnet es das Abfallen und Pflücken der Früchte eines Baumes (Schilling). So wird bō zur Metapher des herbstlichen Welkens und zum Gegenstück des folgenden Hexagrammes 24, der frühlingshaften Wiederkehr.
Die Trigramme
Die Erde vermag diesen Berg nicht mehr zu tragen. Die fünf Yin höhlen den Raum bis zum Zusammenbruch des letzten Yang aus.
Grundbedeutung
Das Haus Nr. 23 ist auf Sand gebaut, das Dach vom Einsturz bedroht. Die Tragfähigkeit einer einst gewesenen Ordnung, einer ehemals schöpferischen und stimmigen Ganzheit löst sich auf. Es ist bloss eine Frage der Zeit, bis diese letzte verbliebene Säule (das oberste Yang) stürzt. Was nach diesem Scherbenhaufen geschieht, bleibt offen (wandelt sich das oberste Yang, entsteht gua 2, die Erde).
Urteil- und Linientexte
Die Linientexte verwenden das Bild der angesägten Bettstatt, die in die Brüche geht. Das Bett als einer der intimsten Orte im Leben eines Menschen ist ein Platz der Ruhe, des Träumens, der Regeneration und der Liebe. Lang anhaltender gestörter Schlaf jedoch treibt an den Rand des Wahnsinns. Die Linien 1-4 erläutern die fortschreitende Zersplitterung des Bettes, bis diese den Schläfer selbst erreicht. Die obersten beiden Linien finden aus den Trümmern heraus zu neuer Einsicht, Vitalität, Sinn und Zweck.
Licht und Schatten
Im besten Fall gelingt es, sich der alten Haut zu entledigen, um das Neue zur Entfaltung zu bringen. Der „Edle“ – so die Empfehlung des Yijing – weiss die Zeichen der Zeit zu deuten, akzeptiert das unaufhaltsame Geschehen („dagegen tun“ lässt sich nichts) und erkennt die Chance, die aus dem Zusammenbruch des Alten entsteht. Wichtig ist, die Ursachen der Zersplitterung zu kennen. Der „Gemeine Mann“ hingegen wird vom Strudel der Ereignisse mitgerissen und droht an den Verlusten zu zerbrechen.

復
24 fù / die Rückkehr
kūn, die Erde
zhèn, der Donner
Das Schriftzeichen
Das alte Zeichen fù auf den Orakelknochen wird als Fuss unter einer Treppe, die zu einer Wohnstatt führt, gedeutet und kann als Metapher für ein Kommen und Gehen verstanden werden.
Die Trigramme
Die erregende Kraft des Donners wirkt (wieder)belebend auf die brach liegende Erde (des vorangegangenen Hexagrammes 23). Das unterste starke Yang trifft auf die Empfänglichkeit der fünf Yin. Sie sind „Freunde, die das Yang willkommen heissen“ (Legge). Fù ist die Wiederkehr des Frühlings im Zyklus der Jahreszeiten (Hertzer).
Grundbedeutung
Ein Neuanfang. Erste Regungen nach einer Zeit des Stillstandes. Das gua ist der Sonnenwende zugeordnet, das tiefste Dunkel des Winters ist überwunden, die Tage werden wieder heller. Es sind erste Anzeichen der Besserung und Erneuerung auszumachen. Ein keimhafter Wiederbeginn – man muss schauen, die Lebenskraft dieses jungen Pflänzchens nicht zu strapazieren. Eine Verständigung kann wieder ermöglicht, Vertrauen wieder hergestellt werden.
Urteil- und Linientexte
Eine Spannung zwischen Bild- und Urteilstext ist offenkundig: Das Urteil spricht von zyklischem Geschehen, das sich naturgemäss – „einfach so“ in daoistischem Sinn – vollzieht. Bei oberflächlicher Betrachtung glaubt man, das Yijing fordere zu aktivem Handeln auf. Der Bildtext macht jedoch klar, dass anstatt eines verfrühten Aktivismus mit Ruhe und Behutsamkeit die wiederbelebenden Kräfte gestärkt und stabilisiert werden müssen. Mit Ausnahme des obersten Yin, welches sich völlig verrennt, versprühen sämtliche Linientexte einen vorsichtigen Optimismus, der schonende Neubeginn könne gelingen.
Licht und Schatten
Offermann betont die Chance des „Comebacks“: Die Umkehr, bevor man zu weit gegangen ist. Gua 24 ermögliche eine probeweise Neuorientierung, ein Auskundschaften (durch das unterste aktive Yang) der noch unbestellten Yin-Felder. Baureif sei das Land noch nicht, doch ergeben sich interessante Perspektiven möglicher Unternehmungen. Es ist eine erste, neutral taxierende Begehung – eine Schnupperlehre. Es braucht einen unverstellten Blick ohne Vorurteile und die Unterstützung von Gleichgesinnten, die die neue Sichtweise teilen. Das Yijing warnt vor althergebrachten Denkmustern und Beurteilungen nach Schema x. Die Dunkelseite fällt ins alte Fahrwasser zurück, wiederholt die gleichen Fehler, verfällt in Routine und verhockt in Bequemlichkeit.

無妄
25 wú wàng / das Unerwartete
qián, der Himmel
zhèn, der Donner
Die Schriftzeichen
Wörtlich bedeutet wú wàng „ohne Fehl“, sinngemäss ist es ein „unerwartet eintreffendes Geschehen“ (Schilling) oder ein „müheloses Tun“ (Hertzer). Waley spekuliert über einen schamanischen Ursprung von wú wàng: Die in Trance geäusserten „Wahren Worte“ eines Schamanen oder einer Zauberin.
Die Trigramme
Aus der Tiefe von zhèn dringt ein Impuls empor, der mit der Natur von qián, dem Schöpferischen, in Übereinstimmung ist.
Grundbedeutung
Die entwaffnende Arglosigkeit einer Kinderseele. Gua 25 ist reine Spontaneität, ein „hier und jetzt“ in voller Absichtslosigkeit. Ein Schluckauf: Etwas stösst uns auf, das in einem Augenblick einfach passiert – es geschieht und wirkt, ob es passt oder nicht – und das wahrgenommen und betrachtet werden will, denn es kommt „aus tiefster Brust“ (von Flüe). Weil dieses Hervorsprudeln so natürlich geschieht, ist es authentisch und deshalb wahr. Diese Unschuld funktioniert aber nur, wenn sie völlig frei von Hintergedanken ist. Das Hexagramm besitzt eine ausgeprägte Zeitqualität: In diesem Moment konstelliert sich etwas.
Wú wàng ist eng verwandt mit dem berühmten „wu wei“ des Daoismus: Den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen, nicht unnötig eingreifen!
Urteil- und Linientexte
Die unteren und oberen Linien erleben das Unerwartete verschieden: Die untersten beiden Linien folgen einfach den Regungen des Herzens, sie machen es so wie es gerade kommt. Je weiter das Schöpferische aufsteigt, desto mehr gewinnt es an Kontur, wird bewusster, reflektierender. Die obersten Linien haben sich bereits von der Unmittelbarkeit des Anfangs entfernt. Das Urteil verheisst zwar„erhabenes Gelingen“, mahnt jedoch unmissverständlich: „Ist jemand nicht recht, so hat er Unglück“.
Licht und Schatten
Instinktiv das Richtige tun. Echtes spontanes Denken und Handeln, ohne auf persönliche Vorteile aus zu sein, „ohne nach links und rechts zu schielen“. Die Absichtslosigkeit ist denn auch das Hauptproblem dieses Hexagramm: Schnell geht die Unschuld verloren und verdeckte Absichten treten zutage. Es gilt auch, das Offenbarte nicht hinunterzuschlucken, es will beachtet werden.

大畜
26 dà chù / Zähmung und Verdichtung
gèn, der Berg
qián, der Himmel
Die Schriftzeichen
Dà chù bedeutet „Aufzucht von grossen Tieren“. Im Mawangdui-Manuskript steht anstelle von chù das Schriftzeichen xu. Gemeint ist dann das Ansammeln und Speichern von Getreidevorräten (Hertzer).
Die Trigramme
Der Berg oben hält fest, stillt, zähmt. Die Potenz der drei Yang des Himmels wird in ihrer Dynamik nach aussen/oben aufgehalten.
Grundbedeutung
Ein Reifeprozess, der durch die Disziplinierung von Kräften eine Anreicherung bewirkt. Wie ein Dampfkochtopf, dessen schwerer Deckel die brodelnde Energie zurück hält. Ab und zu wird er vom Druck angehoben, dass dieser ein wenig entweichen kann. Doch es liegt im Wesen des Deckels, dass der Inhalt des Topfes nicht vorzeitig verdampft. Die urbildliche Situation, von der gua 26 ausgeht, ist die Zucht von Eber und Stier. Beide Tiere sind ungezähmt eine latente Gefahr für Leib und Leben, domestiziert aber sind sie von grossem Nutzen für den Menschen (Hellmut Wilhelm). Im Vergleich zu gua 9, Kleine Einschränkungen, ist das Hinderliche hier deutlich überlegen – das Wilde, Unbändige wird klar zurückgebunden.
Urteil- und Linientexte
Der Eber und der Stier der vierten und fünften Linie müssen gebändigt, ihre negative Energie muss von den Yang unter Kontrolle gehalten werden.
Licht und Schatten
Für gewöhnlich wird gua 26 als hemmend und frustrierend empfunden, anderseits wird in dieser Konstellation eine Art Individuationsprozess vorgezeichnet, ein Weg fortschreitender Sozialisierung und Kultivierung, der letztlich (im obersten Yang) zu einem wahrhaft gereiften Selbst führt. Es braucht eine Balance von Beharrungsvermögen, nichts vorzeitig zu erzwingen, wie auch etwas Risikobereitschaft, einen vielleicht schwierigen Weg zu Ende zu gehen. Die Dunkelseite „bleibt zuhause“ und lässt es genügen. Eine anspruchsvolle Aufgabe wird nicht angepackt. Zurück bliebe Verkümmern und Resignation.

頤
27 yí / die Ernährung
gèn, der Berg
zhèn, der Donner
Das Schriftzeichen
Das Piktogramm yí in den Bronzeinschriften bildet nach traditioneller Auslegung eine Mundhöhle ab. Die beiden Yang sind die Kieferknochen, die Yin die Zähne. Das graphische Erscheinungsbild des Hexagramms entspricht dem Schriftzeichen und ist als offener Mund zu verstehen, der Nahrung aufnimmt. Eine Neuinterpretation sieht im Zeichen die Brüste einer Frau und den Kopf eines Säuglings, d.h. eine stillenden Mutter.
Die Trigramme
Zhèn, ein Impuls von unten/innen und Konzentration von Substanz (gèn) kommen zusammen. In der Tiefe der Erde liegt ein Yang, das trägt; in der Höhe des Berges ein Yang, das führt.
Grundbedeutung
Die physische und psychische Ernährung. Gua 27 stellt die Frage nach den Grundlagen des Seins: Worauf gründe ich meine Existenz, worauf richte ich meinen Kompass? Grundsätzlich: Wie kommt der Mensch in der offenen, empfangenden Mitte von yí in Kontakt mit der mütterlich-bergenden Erde und der leitend-geistigen Kraft des Himmels? Ist doch das Tragfähige dieser Erde fragil. Schon eher ist es eine stete Suche, was uns hält. Darin wurzelt die Bedürftigkeit des Menschen: Die vier labilen, unstrukturierten Yin suchen Nahrung, Klarheit, Ordnung. Der lang währende Prozess einer Kontaktaufnahme, an dessen Anfang Ernährtwerden und Nahrungsaufnahme stehen (von Flüe).
Urteil- und Linientexte
Der Urteilstext sagt es kurz und bündig: „Sieh auf die Ernährung und womit einer selbst sucht, sich den Mund zu füllen“. Prüfe genau: Was nehme ich auf, was gebe ich weiter? Verliere auf keinen Fall deine „Zauberschildkröte“ (wie es der untersten Linie geschieht), dieses wunderbar nährende Geschenk des Lebens (Aeppli): Hast du sie, besitzt du alles; hast du sie nicht, fehlt dir alles.
Licht und Schatten
Die Urerfahrung des vorbehaltlosen „ernährt werdens“: Etwas aufnehmen und aneignen können. Das simple Dasein als Glück zu erfahren (wie wenig sind wir uns bewusst, einfach „sein“ zu dürfen). Offermann betont das die Welt einverleibende Ich: Was mache ich mir zu eigen, was will ich haben? Die Haltlosigkeit als Dunkelseite: Die die beiden Yang aussaugenden, unstillbar bedürftigen Yin, die bis zu einer immer weiter auszehrenden Verwöhnung oder Sucht verkommen. Hab- und Raffgier – nur nehmen, nicht jedoch geben können/wollen.

大過
28 dà guò / das Übermass
dùi, der See
xùn, das Holz, der Wind
Die Schriftzeiche
Dà guò meint wörtlich „an etwas vorbeigehen“ oder „darüber hinausgehen“ (Schilling).
Die Trigramme
„Der See geht über die Bäume hinweg“ evoziert eine Überschwemmung. Auch die graphische Struktur des Hexagrammes – spiegelbildlich zu gua 27 – zeigt die Überlast der vier Yang, welche aussen nur von zwei schwachen Yin zusammengehalten wird.
Grundbedeutung
Ein Übermass an Aktivismus. Die Dinge sind aus dem Gleichgewicht geraten, haben ihre natürliche Grenze überschritten. Expansion auf Kosten der Ressourcen. Die Belastung ist zu gross für die tragenden Kräfte (Richard Wilhelm). Ein Allzuviel an yang-hafter Energie und Tüchtigkeit, die nie zur Ruhe kommt. Gua 28 als Charakterisierung der Systemzwänge des digitalen Zeitalters: Ein Yang erzeugt das folgende, immerfort – eine Sache erfordert die nächste, unaufhörlich (von Flüe).
Urteil- und Linientexte
Der Urteilstext gibt das Bild des Firstbalkens (innen dick und schwer, an seinen Enden aussen zu dünn – das Linienbild dieses gua), der tragenden Stütze eines Hauses, der sich wegen des zu grossen Gewichts der vier Yang durchbiegt. Es müssen Massnahmen ergriffen werden, um ein solches Dach vor der Einsturzgefahr zu schützen. Dass in seltenen Fällen die überbordende Potenz der vier Yang auch Chancen bietet, kommt im Text zur zweiten Linie zum Ausdruck: „Eine ausgedörrte Pappel treibt neue Sprossen. Ein älterer Mann bekommt eine junge Frau“!
Licht und Schatten
Durchhalteparolen sind fehl am Platz, die Überlastung, der Dauerstress muss beendet werden. Eine Lösung und Unterstützung muss von aussen kommen, aus einer völlig neuen Perspektive, um den drohenden Kollaps/Konkurs abzuwenden (Offermann). Dem „Edlen“ (der obersten Yin-Linie) steht das Wasser buchstäblich bis zum Hals, es ist der ultimative Ort, wo es nicht mehr weitergeht. Findet er gerade in dieser Notlage wieder zu Gelassenheit und Ruhe, zu sich selbst, zur vielleicht schmerzvollen Einsicht der eigenen Grenzen?

坎
29 kan / die Vertiefung
kǎn, das Wasser
kǎn, das Wasser
Das Schriftzeichen
Kǎn bezeichnet eine Grube, Höhle, Falle oder einen Abgrund. Damit verbunden ist der Gedanke der Gefährdung und des Hineinstürzens (Schilling).
Die Trigramme
Das Trigramm wird mit dem Element Wasser assoziiert. Das von zwei Yin eingeschlossene Yang ruft das Bild eines in einer tiefen Schlucht strömenden Flusses hervor.
Kǎn und lí – Wasser und Feuer
Die Paartrigramme kǎn und lí (das folgende gua 30) als Synonyme für Körper und Geist besitzen hervorragende Bedeutung. Wie Yin und Yang versinnbildlichen Wasser und Feuer grundlegende Elemente in Natur und Kosmos, die sich in zahlreicher Gestalt manifestieren. In der Inneren Alchemie des Daoismus bsp. ist es die Aufgabe des Adepten, durch fortgeschrittene Meditation das Yin von lí – die Geisteskraft – mit dem Yang von kǎn – der Lebenskraft des Körpers – miteinander zu verschmelzen, um das Elixier der Unsterblichkeit zu erlangen.
Grundbedeutung
Gua 29 zeigt die Notwendigkeit, sich schwierigen Inhalten zu stellen. Der Weg von kǎn führt in Abgründe, zu gefahrvollen Strudeln und Stromschnellen. Doch dieser Weg ist unvermeidlich, wenn tief liegende Ursachen und Zusammenhänge erkannt werden wollen. Es braucht die Bereitschaft und den Mut zur genauen Prüfung. Doch schliesslich erweist sich in Wahrheit dieser Wildbach in zerklüftetem Gelände als der in der Verborgenheit unerschöpflich fliessende und nährende (Lebens)Strom. Das Wesen des Wassers liefert zugleich das Vorbild, wie der Gefahrenherd angegangen werden soll: Jede Vertiefung wird bis zum Grund ausgefüllt, um dann sofort weiter zu fliessen.
Urteil- und Linientexte
Der Urteilstext betont die Wahrhaftigkeit, ohne die der Prozess der Betrachtung der Dunkelseiten nicht gelingen könnte.
Licht und Schatten
Weiss man, wo „der Schuh drückt“, ist schon vieles gewonnen. Es braucht Selbstvertrauen und die Überzeugung, das Richtige zu tun. Der Weg kann in unangenehme und gefährliche Gefilde führen, doch geht es darum, „Grund im Abgrund“ zu finden (G. Zimmermann). Die Hintergründe von Problemen und Schwierigkeiten müssen beleuchtet und angepackt, aber keinesfalls verdrängt oder auf die lange Bank geschoben werden. Nach gelungener Therapie ist es ratsam, zu neuen Ufern aufzubrechen. Die Dinge hinter sich lassen, nicht im Sumpf stecken bleiben und in lähmende Grübeleien verfallen.

離
30 Lí / das Feuer
lí, das Feuer
lí, das Feuer
Das Schriftzeichen
Lí ist ursprünglich der Name eines gelben (Sonnen?)Vogels, des Pirols (Oriolus chinensis). Im „Buch der Oden“ wird der sanfte Gesang des Pirols oft mit Trauer und Besorgnis in Verbindung gebracht und gilt daher als unheilvolles Vorzeichen, doch weckt er anderseits als Bote des Frühlings eine sehnsuchtsvolle Vorfreude (Schilling, Rutt, Kunst). Das Mawangdui-Manuskript wiederum benennt gua 30 mit „luo“ (wahrscheinlich einer Lehnschreibung von lí) als Netz, womit sich etwas fangen lässt.
Die Trigramme
Das Trigramm lí stellt das Element Feuer dar. Das Schöpferische von qián hat die zentrale Linie von kūn, der Erde, in sich aufgenommen und wird dadurch hell, warm und klar. So entsteht lí, das Feuer (Wilhelm). „Wo Yang zündet, ist Lí“: die kreative Kraft des Yang verdichtet sich in lí wie in einem Brennspiegel. „Das obere lí ist das Licht des Verstehens, der Erhellung, wodurch man das Äussere erkennt. Durch das Licht des unteren lí erkennt man sein Selbst, seine Stärken und Schwächen“ (Minford/Mun).
Kǎn und lí – Wasser und Feuer
Kǎn und lí – Kälte und Wärme, Wasser und Feuer – die Grundbedingungen des Lebens. Als Symbole einer Ganzheit sind die beiden Zeichen noch heute überaus populär (s. auch gua 29).
Grundbedeutung
In gua 30 geht ein Licht auf, etwas wird klar – ein Aha-Erlebnis. Lí ist enthusiastisch, freudig und beflügelnd. Es ist ein Aufwind, ein Auflodern und Emporheben in diesem Bild, sodass die Gefahr besteht, die Bodenhaftung zu verlieren. Es braucht Erdung. Feuer selbst besitzt keine Substanz, es bedarf notwendig eines Brennstoffes. Lí ist „ein Ereignis“, das verbrennt, verzehrt und verwandelt. Gua 30 bezieht sich in diesem Sinn auch auf die existenzielle Vergänglichkeit und Wandelbarkeit des Seins.
Urteil- und Linientexte
Einige Interpreten vermuten in den Texten zu den Linien 4 und 5 Anspielungen an die verheerende Macht des Feuers im Kontext von Kampf und Krieg (Rutt und Kunst).
Licht und Schatten
Erleuchtung und Einsicht: Man erkennt die Dinge in bewusster Klarheit, ohne Fehl und Trug. Gerät ein Brand jedoch ausser Kontrolle – verlieren Ideen den Bezug zur Realität – entstehen überdimensionierte Ziele, Selbstüberschätzung, Weltfremdheit. Eine gesteigerte Form von lí, die „abhebt“, führt von Wahnvorstellungen bis hin zu Geisteskrankheit.

咸
31 xián / die Resonanz
dùi, der See
gèn, der Berg
Das Schriftzeichen
Kunst und Rutt lesen xián als Lehnschreibung für „kan“, etwas kürzen, klein schneiden und verletzen. Das alte Zeichen des Hexagrammnamens in den Orakelknocheninschriften besteht aus einer (Streit)Axt und einem Mund. Wird das Herz-Radikal hinzugefügt, ergibt dies sinngemäss ein „kribbelndes Gefühl“ (Minford, Waley). Seit der Han-Zeit wird xián jedoch als „alles beeinflussend und anregend“ verstanden. Die frühesten Manuskripte des Yijing verwenden anstelle von xián das Zeichen qin. Nach Hertzer drückt qin eine allgemeine Respektsbezeugung aus, wie sie der Beziehung eines Paares zugrunde liegen sollte oder sich in der Verehrung einer Sache/Person gegenüber zeigt.
Die Trigramme
Dùi über gèn ist der See auf dem Berg. Im besonderen: Der stille Zauber eines abgeschiedenen Bergsees („… wie viele Wege führen allein zu den „Augen der Berge“!“). Die innere Ruhe von gèn und die äussere Freude von dùi kommen zusammen. In der konfuzianisch geprägten Interpretation der Familien-Reihenfolge der Trigramme wirbt das männliche Yang-Prinzip von gèn (der „jüngste Sohn“) um die Gunst des weiblichen Yin des Sees (die „jüngste Tochter“).
Grundbedeutung
Resonanz und Sympathie aufgrund von Anziehung und Werbung. Der Lockruf des Eros. Vereinigung entsteht, und „alle Wesen unter dem Himmel“ werden erzeugt. In gua 31 werben und verlieben wir uns. Entweder werden wir von etwas berührt – schnell, mühelos, sofort – oder eben nicht. Ähnlich wie in gua 22, der Anmut und Schönheit, reagiert das Yijing auf diese starke Anziehung ambivalent.
Urteil- und Linientexte
„Ein Mädchen zu nehmen ist glücksverheissend“ (Urteilstext): Eine Verbindung eingehen, auf Gefühl und Herz hören! Die Linientexte betrachten Werbung hingegen skeptischer. In xián schwingt unverkennbar eine Bedeutungsebene von „Schmerzen zubereiten“ mit. Diese wirken sich in den Linientexten auf verschiedene Teile des Körpers aus.
Licht und Schatten
Anziehung und Erotik berühren, bewegen, reizen, erregen, verwandeln – „die wundervolle Metamorphose eines Frosches in einen strahlenden Prinzen“ – und wollen vereinen. Gua 31 regt den Appetit an, wirbt mit Raffinesse und erzeugt Sympathie. Der Knackpunkt von xián aber besteht in der Frage der Gesinnung: Mit welcher Absicht, mit welchem Motiv wird geworben? Wo sind die Grenzen zu unlauterer Propaganda, zu leeren Versprechen, zu Rattenfänger-Methoden?

恆
32 héng / die Beständigkeit
zhèn, der Donner
xùn, der Wind
Das Schriftzeichen
Das Zeichen héng der Orakelknocheninschriften stellt einen Halbmond dar. In der Mythologie ist Héng E die Mondgöttin. Ihr wird das Wissen um die Zu- und Abnahme von Kräften zugeschrieben. Sie verkörpert „Regelmässigkeit“ und in einem weiteren Sinn „Unsterblichkeit“. Im Lunyü, den „Sprüchen des Konfuzius“, wird „héng de“ als Gefahren bannende Kraft, über die ein Schamane verfügen muss, beschrieben.
Die Trigramme
Donner und Wind treten miteinander auf, gehören als Naturerscheinungen unabdingbar zusammen. So sind zhèn und xùn Sinnbild einer dauernden Vereinigung (im Gegensatz zur herzhaft-momentanen Anziehung von gua 31). Nach Minford nährt eine sanfte Brise unten/innen die erregende Kraft des Donners und bewirkt damit ein dauerhaft dynamisches Geschehen. Ein Impuls (zhèn) wird an Eindringliches (xùn) gebunden – es wird etwas organisch angereichert und vertieft (von Flüe).
Grundbedeutung
Kontinuität. Ein tragfähiger Boden, ein Fundament wird gelegt. Der regelmässig zu- und abnehmende Halbmond héng als Bild eines immerwährenden Zyklus. Ausatmen und einatmen – auf jedes Ende folgt ein neuer Anfang. Dauerhaftigkeit jedoch bedarf periodischer Erneuerung. R.L. Wing weist auf den positiven Wert von Tradition, die Sicherheit, Orientierung und ein Gefühl der Identität einer Gemeinschaft liefern kann. Doch muss diese lebendig und hinterfragbar bleiben.
Urteil- und Linientexte
Der Urteilstext weist explizit auf eine gefestigte Mitte („zu wissen, wohin man geht“), die das eigene Handeln und Denken leitet. Wie in gua 31 entsprechen alle Yin- und Yanglinien einander. Liegt das Augenmerk dort auf der erotisch-gefühlsbetonten Wahrheit des Herzens, sprechen hier die Linientexte von der ethisch-geistigen Ausrichtung des inneren Kompasses.
Licht und Schatten
„Was gibt Halt unter den Füssen?“ ist die zentrale Frage dieses gua. „An etwas dran bleiben“ verleiht einer Sache Beständigkeit und Tiefe. Treue, die Neuem gegenüber jedoch beweglich und offen bleibt. Offermann warnt vor der konservativen Tendenz, die Dinge so zu belassen wie sie einmal waren. Allzu vehemente Beharrlichkeit jedoch führt zu Perfektionismus und Erstarrung, zu „übermässig langem Verweilen am selben Ort“.

遯
33 dùn / der Rückzug
qián, der Himmel
gèn, der Berg
Die Schriftzeichen
Traditionell wird dùn als „zurückweichen, sich zurückziehen“ interpretiert. Da das Schriftzeichen das Bild eines Ferkels beinhaltet, schlug Waley vor, dùn als Lehnschreibung für „tùn“, Schwein, zu betrachten. Wie das „Buch der Lieder“ bezeugt, wurde im Alten China das Verhalten von Schweinen als Omen gedeutet. Ganz anders betitelt das Mawangdui-Manuskript das Hexagramm: „Yuan“ bezeichnet, ausgehend von seiner ursprünglichen Bedeutung „helfen, unterstützen“, den Regierungsbeamten, der in seiner Funktion idealerweise dem Herrscher zur Seite steht (Hertzer). Eine weitere Version bietet das Wangjiatai-Manuskript, welches dùn als „sich bewegen, fliehen, verstecken“ versteht (Shaughnessy).
Die Trigramme
Die schattigen Yin sind im Aufsteigen begriffen. Die lichten Yang ziehen sich davor zurück, sodass jene ihm nichts anhaben können (Wilhelm). Dùn wird dem Spätsommer zugeordnet, wenn die dunkle Jahreszeit wieder wächst. Hertzer deutet die Stellung der Trigramme auf völlig andere Weise: Die Höhe des Berges gèn ragt in den Himmel hinein. Der Berg stehe dem Himmel am nächsten wie der Hofbeamte dem Kaiser. Diese Konstellation sei Ausdruck einer ruhigen und stabilen Situation auf der Basis gegenseitigen Vertrauens.
Grundbedeutung
Abstand nehmen, auf Distanz gehen. In gua 33 geht es um eine fruchtbare Scheidung von Yin und Yang, sodass die Yang-Kraft wieder neu genutzt werden kann. Die vier Yang setzen sich ab, das Dunkle und Helle entmischt sich. Allerdings versuchen die Yin, sich wie siamesische Zwillinge an die Yang zu heften. Rückzug aus freien Stücken hat nichts mit überstürzter Flucht zu tun. In Anbetracht der widrigen Umstände zieht man bloss die Konsequenzen.
Urteil- und Linientexte
Liest man dùn in den Linientexten als Ferkel, so wird die Bedeutung des Tieres als wertvolles Opfer oder als Geschenk deutlich.
Licht und Schatten
Man lässt voneinander, jede/r richte sich neu ein. Behinderungen werden abgeschüttelt. Los lassen von ungesunden Inhalten, Zweifeln, Unsicherheiten. In der Zurückgezogenheit leben und wirken kann auch heissen, eine innere (Narren)Freiheit zu bewahren. Es wäre verfehlt, sich auf eine Auseinandersetzung bis zum Äussersten einzulassen. Dazu ist man nicht in der Lage. Doch in einzelnen wichtigen Punkten soll und muss die eigene Position verteidigt werden. Die entscheidende Frage dieses gua ist: Wo ist der hauptsächliche Standort des Ratsuchenden? Ist er bei den Yin, die sich anklammern, oder bei den Yang, die sich aus dem Staub machen wollen? Wird der Rückzug verfehlt, bleibt alles weiter verhängt, Halbherzigkeiten bleiben bestehen („geteiltes Leiden ist halbes Leiden“). Eine Trennung als Voraussetzung eines Neubeginns scheitert.
Anmerkung
Der Kangxi-Kaiser (1654-1722) gebrauchte dùn, um die Unmöglichkeit einer Regentschaft, die sich am daoistischen Herrschaftsprinzip des „wu wei“ (des „nicht unnötig Eingreifens“) orientiert, zu illustrieren. In seinen Worten: „Im Hexagramm 33 handelt keine einzige Linie von den Aufgaben eines Herrschers. Daraus ist ersichtlich: Herrscher finden keine Zeit, zu ruhen, und es gibt keinen Ort für sie, sich zurückzuziehen“.

大壯
34 dà zhuàng / Stärke und Macht
zhèn, der Donner
qián, der Himmel
Die Schriftzeichen
Dà zhuàng bedeutet wörtlich „grosse Stärke“. Zhuàng kann nach Gao Heng auch als „verletzen, verwunden“ gelesen werden.
Die Trigramme
Blitz und Donner am Himmel, ein Bild entfesselter Naturkräfte. Energisch sind die vier Yang ins Zeichen eingetreten und wollen weiter emporsteigen. Innen voller schöpferischer Aktivität von qián, aussen der schwungvolle Tatendrang von zhèn – mehr an Sturm und Drang geht kaum.
Grundbedeutung
Überbordende Dynamik. Gua 34 illustriert eine Position der Stärke und des Durchsetzungsvermögens. Man besitzt die Möglichkeiten und Mittel, seinem Willen freien Lauf zu lassen. Alle Türen scheinen offen zu stehen. Die schöpferischen Kräfte haben sich in einem überflutenden Strom vereint, der nahezu über die Ufer tritt. Die grosse Gefahr von dà zhuàng: Es braucht nur wenig, ein kleines Stück des „Guten zuviel“, und die Situation eskaliert.
Urteil- und Linientexte
Die Linien 3-6 zeigen den Widder, der mit seinen Hörnern vorwärts stösst . Diese ungestüme Bocksnatur gilt es im Zaun zu halten: „So tritt der Edle nicht auf Wege, die nicht der Ordnung enstprechen“.
Licht und Schatten
Kraftvolle Initiativen, Pläne, Ideen, die umgesetzt werden wollen. Die Bedingungen zu expandieren, scheinen gegeben. Doch: Welche Mittel setze ich dazu ein? Bin ich noch in der Lage, innezuhalten, Kritik anzunehmen, andere Standpunkte gelten zu lassen? Oder verrenne ich mich in eitler Selbstdarstellung, Arroganz und Anmassung? Das Yijing appelliert in gua 34 an die Prinzipien von Anstand und Respekt und verurteilt scharf jede Form der Machtdemonstration, des Machtmissbrauches und der reinen Geltungssucht.

晉
35 jìn / der Sonnenaufgang
lí, das Feuer
kūn, die Erde
Das Schriftzeichen
Die frühe Schreibweise des Zeichens jìn stellen Pfeile oder Pfeilspitzen über oder in einem Behältnis dar, welches vermutlich als Geschenk verstanden wurde (Minford). „Pfeilspitzenartig vorstossen“ ist die wörtliche Übertragung der Anfangssätze der ersten, zweiten und vierten Linie (Schilling). Das Mawangdui-Manuskript betitelt gua 35 mit „zan“ im Sinne des Grundwassers, das aus der Erde kommt. Hertzer sieht darin eine Ergänzung zur vorteilhaften Thematik von jìn des traditionellen Textes.
Die Trigramme
Feuer (die Sonne) steigt über die Erde – der Sonnenaufgang als Sinnbild eines raschen und erhellenden Fortschritts. Die Kraft der Erde (die „Pferde“ des Urteilstextes) wird hervorgelockt und von lí geistig geklärt (dies ist nicht der Ort des intuitiv-triebhaften Wirkens).
Grundbedeutung
Bei Lichte betrachtet erscheinen die Dinge klar und deutlich. Die Nebel lösen sich auf, Unsicherheit und Zweifel vergehen. Erste Schritte führen in eine verheissungsvolle Zukunft, neue Perspektiven eröffnen sich. Gua 35 schreitet leicht voran, verbreitet sich schnell, weitet sich aus, erhellt und klärt.
Urteil- und Linientexte
Beim „starken Fürsten“ des Urteils handelt es sich um den historischen Prinzen Kang, einer der Söhne des legendären Gründers der Zhou-Dynastie, des Königs Wen. Für seine Verdienste wurde er mit einem Lehen belohnt und erhielt „Pferde in grosser Zahl“. Aufgrund der Hexagramm-Struktur entspricht Kang dem starken Yang auf viertem Platz (der Position des Fürsten), der dem weisen König auf fünftem Platz das „Volk der Yin“ zuführt. Dieser yin-König besitzt Autorität und Würde, der die Verdienste des engagierten Mitstreiters zu schätzen weiss.
Licht und Schatten
Nach den Nächten des Zweifels bricht eine Zeit des Weiterkommens und Aufblühens, der erfolgversprechenden Aussichten an. Man sieht die Zusammenhänge aus einem anderen Blickwinkel, vergleicht und kommt zu neuen Schlüssen. Geistige Horizonte erhöhen und erweitern sich. Werden die (Aufstiegs)Möglichkeiten jedoch nicht genutzt, bleibt es bei vertanen Chancen. Ebenso gilt es, unlauterer Fortschritt auf Kosten Anderer zu vermeiden.

明夷
36 míng yí / die Sonnenfinsternis
kūn, die Erde
lí, das Feuer
Die Schriftzeichen
Traditionell wird míng yí als „Verwundung des Hellen“ verstanden. Als Lehnschreibung bezeichnet „ming yi“ den „singenden Fasan“ oder einen geflügelten Dämon. In einigen Liedern des „Buchs der Oden“ erscheint der Flug des Fasans als ominöses Vorzeichen. Ausserdem könnte es sich bei míng yí um den Namen eines mythologischen Sonnenvogels (vgl. gua 30) oder einer Sonnenfinsternis handeln (Schilling).
Die Trigramme
Lí, das Feuer der Sonne, ist in die Erde gesunken. Dieses „verwundete Licht“ im Sinne des Niedergangs von Klugheit und Weitsichtigkeit ist eines der düstersten Hexagramme des Yijing und bildet den Gegenpol zum strahlenden Sonnenaufgang des vorhergehenden gua 35.
Grundbedeutung
Verfall und Untergang, eine Zeit der zunehmenden Dunkelheit. Prinzipiell gute Kräfte kommen nicht mehr zum Zug, werden verkannt und verdreht. Infolge äusserer Widrigkeiten bleibt nichts anderes übrig, als das eigene Licht zu verbergen. Es hätte fatale Folgen, wollte man seine Überzeugungen durchsetzen – seien diese auch noch so gut gemeint. Auf subjektstufiger Ebene versinnbildlicht míng yí die Dunkelseiten einer Persönlichkeit, ihre Schwächen, Mängel und Unzulänglichkeiten.
Urteil- und Linientexte
Die Linientexte sprechen von Verwundungen und Verletzungen eines Fasans, die bis zu seinem Absturz (Yin auf sechstem, oberstem Platz) führen.
Licht und Schatten
Auf sich selbst zurückgezogen, um zu überleben – eine Standhaftigkeit, die stärkt. Eine unauffällige Existenz im Inkognito. Im Grunde mögen brilliante Fähigkeiten vorhanden sein, die aber wegen innerer oder äusserer Faktoren beschädigt sind (Offermann). Verschüttete Begabungen und Talente, die sich nicht entfalten können. Tiefe Verletzungen, die kaum mehr zu heilen sind (im Extrem: bleibende körperliche und geistige Behinderungen). Schmerzliche Erfahrung eigener Grenzen. Gesinnungsterror.

家人
37 jiā rén / der Familienverband
xùn, der Wind
lí, das Feuer
Die Schriftzeichen
Seit den Orakelknocheninschriften stellt das Schriftzeichen für „Familie“ ein Dach über einem Schwein dar. Es porträtiert den Reichtum eines einzelnen Haushaltes im Gegensatz zu einem grösseren Kollektiv oder des Clans. Als Opfertier wurde es den Ahnen dargebracht. Die Vorstellung eines engen Bandes zwischen einer Familie und ihren Ahnen steht im Zentrum der chinesischen Kultur und Gesellschaft. Die Nachkommen bieten ihren Ahnen Opfergaben und bitten um deren Beistand. Zieht jemand (das gilt für Aussenstehende ebenso) jedoch den Zorn eines Ahnen auf sich, drohen Vergeltung und Strafe. Jiā rén bedeutet wörtlich „Leute einer Familie“, gemeint ist ein Verwandtschaftsverband oder eine Grossfamilie.
Die Trigramme
Unten innen befindet sich lí, das Herdfeuer als Brennpunkt, um dessen Mitte sich die Mitglieder eines Haushaltes scharen und welches eine Wohnstatt erleuchtet und wärmt. Dieses Feuer wird vom Wind angefacht, anderseits erzeugen seine Flammen Rauch und Wind. Das komplementäre Zusammenwirken zweier Faktoren wird in der Kombination der beiden Trigramme offensichtlich (Hertzer). Xùn kann ausserdem als bestimmte Wirkungsweise (ein Stil, eine „Note“) einer Familie – wie es in ihr zu und her geht – verstanden werden.
Grundbedeutung
Eine Grundgestalt von Ordnung in ihren vielschichtigen Bezügen soll hochgehalten und gepflegt werden (von Flüe). Der sinnvoll gegliederte Mikrokosmos einer Familie als archetypisches Erfahrungsprinzip. „Die gute Kinderstube“: Eingebettet in den Schoss der Familie erfährt der Heranwachsende, wo er hingehört und wie das Leben funktioniert. Das Kind lernt „das Weibliche“ von der Mutter, „das Männliche“ vom Vater. Dieses Gefüge lässt sich nicht beliebig verändern, gewisse Grenzen müssen respektiert werden.
Urteil- und Linientexte
Der Urteilstext weist auf die spezielle Rolle der beiden Frauen (Yin-Linien), die innerhalb der Familie die Fäden in der Hand halten und als Gebärende unverzichtbar ihren Fortbestand sichern. Wie in einer durch und durch patriarchalen Gesellschaft (nicht nur der chinesischen!) üblich, wird dieses gua von den vier Yang von aussen beherrscht. Von den Yin wird erwartet, sich den dominierenden Yang unterzuordnen und ihnen zu „dienen“ (so jedenfalls verlangt es die konfuzianische Sitte, die das Rollenverständnis der Geschlechter im Reich der Mitte bis in die Gegenwart bestimmt).
Licht und Schatten
Einsicht in einen klar strukturierten Rahmen, der die Dinge gedeihen lässt. Die Familie als Ort von Prozessen, die Einstellungen, Verhalten und Erfahrungen prägen, die sich allenfalls im Grösseren bewahrheiten. Jedes Mitglied dieses Verbundes wird durch seine Rolle definiert und bestimmt wiederum die Rolle der Anderen. Sie bilden eine Einheit, die sich im Zweifelsfall gegen äussere Bedrohungen zur Wehr setzt. Als Dunkelseite kennen wir die Abgründe, die sich in einer Sippschaft konstellieren. Wie nahe sind sich Geborgenheit und Enge! Das Spannungfeld von Familie und Individualität einer modernen Gesellschaft im Vergleich zur idealisiert-tradierten Norm, wie sie uns in diesem gua begegnet, birgt ein reiches Potential an Konflikten.

睽
38 kúi / der Gegensatz
lí, das Feuer
dùi, der See
Das Schriftzeichen
Das Piktogramm kúi zeigt zwei Augen über einem kreuzförmigen Zeichen. Die primäre Bedeutung ist „schielen“, oder wörtlich gemäss dem Shuowen „die Augen hören einander nicht“. Die Mawangdui-Version erklärt kúi im Sinne von „mit dem Rücken zueinander stehen, sich voneinander abwenden“. Davon abgeleitet ist das spätere Verständnis „seltsam, komisch, ein wenig unheimlich, eigensinnig und fremd“.
Die Trigramme
Das Gegensätzliche zeigt sich in der Dynamik der Trigramme: Oben das emporlodernde Feuer, unten das Wasser des Sees, das abwärts fliesst. Auch wenn sie „beisammen sind“, die beiden Elemente lí und dùi vermischen sich nie, jedes behält seine Eigenart.
Grundbedeutung
Gegensätzlichkeit und Differenz als Spannungsverhältnis. Abwehr von Fremdem, Unvertrautem. „Die Dinge erscheinen kaum mehr nachvollziehbar“: Der beste Nährboden für Misstrauen, Unverständnis, Zwist und Streit. „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!“ – das Ringen zwischen Lust und Vernunft, Sinnlichkeit und Disziplin. Auf philosophischer Ebene die komplementären Teile (Yin und Yang) einer übergeordneten Ganzheit. Durch die Erfahrung von Gegensatzpaaren wie hell-dunkel, warm-kalt, laut-leise, oben-unten entzündet sich Bewusstsein.
Urteil- und Linientexte
Shaughnessy vermutet (aufgrund von Untersuchungen von Wen Yiduo) einen astronomischen Hintergrund der Linientexte. Angesichts der heiklen Lage warnt der Urteilstext vor Radikalkuren, „das Kind nicht mit dem Bad ausschütten“, denn nur kleine Schritte und behutsame Annäherungsversuche führen zum Erfolg.
Licht und Schatten
Obwohl der Handlungsspielraum in Zeiten ausgeprägter Differenzen eingeschränkt ist, soll das Widersprüchliche und Gegensätzliche zur Sprache kommen. Es gilt, Missverständnisse auszuräumen. Es ist wesentlich, Spielraum für Verständigung und Kommunikation zu schaffen – das Gespräch muss gesucht, vertrauensbildende Massnahmen umgesetzt werden. Wenngleich die Dinge in diesem gua auseinander streben, wird dennoch eine Tendenz zur Überwindung des Kontrastes sichtbar. Schliesslich ist man selten so gut wie hier in der Lage, das Fremde in seiner Andersartigkeit vollauf zu erkennen, was bestenfalls zu einem tieferen Verständnis (und Neugier!) nicht nur des Gegenübers, sondern auch zu einer Stärkung des Eigenen führt. Wird Entfremdung zu gross, werden Gräben zu tief, drohen Konflikte zu eskalieren. Die Negativspirale: Feindseligkeiten, bösartige Anschuldigungen, Androhung roher Gewalt; Isolation, Verhärtung und Extremismus.

蹇
39 jiǎn / das Hindernis
kǎn, das Wasser
gèn, der Berg
Das Schriftzeichen
Jiǎn bezeichnet jemanden, der stolpert und strauchelt. Diese Gehbehinderung steht prinzipiell für ein Hindernis (Hertzer, Waley). Eine alte Variante liest „jie“ als „kritisieren, sich beschweren, protestieren“ (Shaughnessy).
Die Trigramme
Vorne tut sich kǎn als gefährlicher Abgrund auf, hinten steht ein unzugänglicher Berg – man ist von Hemmnissen umgeben (Wilhelm).
Grundbedeutung
Auf den ersten Blick eine unwirtliche, ausweglose Lage. Man kann es drehen und wenden, wie man will, das Terrain bleibt schwierig. Der Lauf des Wassers zeigt jedoch, wie Hindernisse überwunden werden: Es staut sich, bis es diese überspült. Abwarten, Kräfte sammeln, den Überblick gewinnen, sich zurückziehen bis der Augenblick kommt, in welchem die Barrieren ohne weiteres umgangen (nicht übersprungen!) werden können.
Urteil- und Linientexte
Fast alle Linientexte betonen das Innehalten und die Korrektur, die zu einer günstigen Wende beitragen. Zudem erinnert das Urteil, „den Grossen Mann“ – eine innere oder äussere Instanz, eine Zielvorstellung – aufzusuchen. Sonst drohen Orientierungslosigkeit und Demoralisierung.
Licht und Schatten
Vorerst glaubt man, die Hürden nicht bewältigen zu können. Doch geht es darum, einen Ausweg zu finden. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Durch eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem scheinbar Unüberwindbaren entsteht ein Gewinn an Einsicht und Persönlichkeit. Krankheitssymptome „ruhig stellen und ausheilen lassen“ (Offermann). Nicht „mit dem Kopf durch die Wand wollen“, keine Schnellschüsse abfeuern. Anderseits: Ein verfrühter Verzicht nach dem Motto „die Trauben sind mir zu sauer und hängen zu hoch“ brächte nur herbe Enttäuschung. Kein feiges Ausweichen.

解
40 xìe / die Befreiung
zhèn, der Donner
kǎn, das Wasser
Das Schriftzeichen
Das Zeichen xìe zeigt zwei Hände mit einem Messer, welche die Hörner eines Ochsen abtrennen (Minford). Es versinnbildlicht ein aktives Loslösen, vom gewaltsamen Abhacken bis zum vorsichtigen Lockern und Entflechten eines Knotens.
Die Trigramme
Das untere Trigramm kǎn verkrampft sich nicht länger nach unten innen, es öffnet sich ein Ventil (zhèn) nach oben aussen. Donner und Regen lassen die Vegetation wieder spriessen.
Grundbedeutung
Komplikationen lösen sich. Eine Befreiung aus der Gefahrenzone des vorangehenden gua 39 setzt ein – darauf liegt der Akzent dieses Hexagrammes. Erleichterung, Erholung und Entspannung folgen. Die Zeit ist reif für einen befreiten Neubeginn.
Urteil- und Linientexte
Die Urteil- und Linientexte mahnen, in Zeiten der Loslösung eine Balance zwischen Entschlossenheit und Nachsicht zu finden. Einige Linientexte – wie etwa das Abhacken eines Daumens oder Zehens in Linie 4 – lassen an die übliche Praxis der Opferung und Verstümmelung von Gefangenen oder Missetätern im Alten China denken.
Licht und Schatten
Spannungen werden abgebaut, Übelstände liquidiert. Es soll reiner Tisch gemacht werden. Alter Zwist soll grosszügig gelegt, eine Amnestie gewährt und generell hemmender Ballast abgelegt werden. Nicht auf Verfehlungen herumreiten – Schuldzuweisungen bringen nichts – doch ist gründlich auszumisten. Ist die Situation nicht voll bereinigt, droht ein Rückfall in alte Fahrwasser. Scheinbare Befreiung brächte nur Frustration.
Anmerkung
In den „Geburtswehen“ von gua 3 – kǎn über zhèn – ist die erregende Bewegung umgeben bzw. innerhalb von Gefahr, hier in gua 40 führt die Bewegung aus der Gefahr.

損
41 sǔn / die Verminderung
gèn, der Berg
dùi, der See
Das Schriftzeichen
Sǔn, ursprünglich in der Bedeutung „verringern, vermindern“ symbolisiert die Zeit des Übergangs vom Herbst in den Winter, in welchem sich die Kräfte der Natur zurückziehen. Auf die Phasen des Mondes übertragen ist sǔn der abnehmende Zyklus.
Die Trigramme
Der See zu Füssen eines Berges – ein grundsätzlich harmonisches Bild einer inneren oder äusseren Landschaft. Erreicht wird dies aber durch eine Minderung des unteren zugunsten des oberen Trigrammes: Der Einhalt gebietende Berg überschattet die glitzernde Wasseroberfläche von dùi und nimmt gleichzeitig deren aufsteigende Nebel-Feuchtigkeit in sich auf.
Grundbedeutung
Reduktion und Rückbesinnung auf das Wesentliche – weniger ist mehr. Dieses „Weniger“ wird hier nicht als gewaltsamer Verzicht, sondern als Teil eines natürlichen Prozesses verstanden, mit dem man lernen muss umzugehen, damit er sich nicht nachteilig auswirkt. In Zeiten des Niedergangs und der Rezession muss der Gürtel enger geschnallt werden. Oft ist dies ein eigentliches „Gesundschrumpfen“. In solcher Lage zeigt sich die Persönlichkeit der Betroffenen: Aus bewusster Einsicht oder im Interesse der Allgemeinheit spendet der Eine gerne ohne sich zu grämen, der Andere fühlt sich benachteiligt und sieht nur das Schmerzhafte des Verzichts. Im religiösen Sinn meint gua 41 Fasten als Läuterung.
Urteil- und Linientexte
Die „zwei kleinen Schüsselchen“ des Urteils reichen als Opfergabe durchaus. Nicht Quantität, nur die Wahrhaftigkeit des Gebers zählt.
Licht und Schatten
Das Leben vereinfachen, Ballast abwerfen, entrümpeln, erleichtern. Wie viele Dinge häufen sich im Laufe der Jahre an, die wir mit uns herumschleppen! Bequemlichkeiten, schlechte Gewohnheiten, Einstellungen und Leidenschaften gilt es abzubauen, eine gewisse Selbstdisziplin ist angebracht – schliesslich soll ein höherer geistiger Weg eingeschlagen werden. Falsch verstandene Askese jedoch lässt die Früchte eines Baumes verdorren. Im Extrem: Ausplündern bis aufs Blut; Opfersyndrom; Faulheit und Verfettung.
Anmerkung
Sǔn ist die Umkehr von gua 31, Resonanz. Dort die magische Anziehung des Bergsees, der berührt, anzieht, erregt. Hier die Macht eines Berges, der das Schillernde von dùi kontrolliert. In engem Zusammenhang stehen auch gua 41 und 42 – Verminderung und Vermehrung – sie stellen ein Gegensatzpaar dar.

益
42 yì / die Vermehrung
xùn, der Wind
zhèn, der Donner
Das Schriftzeichen
Das Piktogramm yì bildet ein Gefäss ab, aus dem Wasser überläuft. Dieses Überfliessen deutet sinnbildlich auf ein „Vermehren und Bereichern“. Aus dieser Bereicherung entsteht schliesslich „unterstützen, helfen“. Interessanterweise wurde dieses Zeichen in den Orakelinschriften wechselweise mit dem yi des Yijing verwendet. Dieses yi („Wandlung“) auf den Orakelknochen zeigt eine Flüssigkeit, welche von einem Behältnis in ein anderes umgegossen wird und für Wandlungsprozesse in der Natur (das Umgiessen) wie auch für Vollkommenheit (ein Gefäss aus einem anderen voll gefüllt) steht (Minford).
Die Trigramme
Donner entfacht Wind – aus der Tiefe dringt ein wachstumsfördernder Impuls, der Beginn eines frühlingshaften Sturmes voller Kraft und Energie. Wenn zhèn zu wehen beginnt, ist dies nicht ein laues Lüftchen.
Grundbedeutung
Bestätigung, Bejahung, Förderung – letztlich Existenzberechtigung und –freude. Das archetypische Frühlings-Erlebnis: Plötzlich beginnt die Erde aufzutauen, die „Lebensgeister“ werden geweckt. Die Zeit der Bereicherung besitzt Fülle, ohne Fülle gibt es keine Vermehrung. Ein schöpferisch tätiger Mensch wird in gua 42 derart von Inspiration erfüllt, dass daraus Taten folgen müssen. Das ganze Hexagramm besitzt den Gestus der grossen Gabe, des beflügelnden Geistes, der wohlwollenden Förderung und grosszügigen Unterstützung.
Urteil- und Linientexte
Die drei oberen Linien haben mehr zu leisten, wollen sich gestaltend mitteilen, während die drei unteren das Empfangende erdauern müssen. Echte Bereicherung kann nur aus innerem Reichtum, aus Authentizität und der Aktivierung eigener Kräfte entstehen. Dann aber gilt es, „den grossen Strom zu überqueren“ (Urteil), das Wagnis umzusetzen.
Licht und Schatten
Zunahme, Zuschuss, Substanzgewinn. Aus der Perspektive der Unteren: Sich den stärkenden, gesundenden Mächten überlassen und profitieren – aus der Perspektive der Oberen: Als Mäzen unterstützen und fördern. Die Gefahr der Unteren: Es wäre sehr frustrierend, würde dieser Ruf versanden. Durststrecken überstehen. Die Gefahr der Oberen: Die Fallstricke in der Rolle des Mäzens.
Anmerkung
Im Gegensatz zu gua 19, der Annäherung, welche einen ersten Anstoss beschreibt, geht es hier um konzentrierte Intensität, um einen von Yang-Qualität geprägten Prozess, der sich in den Raum auswächst (von Flüe).

夬
43 guài / der Durchbruch
dùi, der See
qián, der Himmel
Das Schriftzeichen
Die herkömmliche Bedeutung von guài ist „entschlossen, bestimmt, sicher“ und spiegelt sich im Aufbau des Hexagrammes wider. Die einzige Yin-Linie steht ganz oben/aussen, sodass die Aktivitäten der Yang kurz vor dem Durchbruch stehen. In ältester Zeit wurde die gleiche Schreibweise des Zeichens auch für „shi“, den Orakelmeister und Opferpriester verwendet. Das Amt des shi beinhaltete ausserdem die Aufgaben des Historikers, der die für den Königshof relevanten Ereignisse aufzeichnete und ihre Auswirkungen auf die Zukunft interpretierte (Hertzer).
Die Trigramme
„Der See über dem Himmel“ ist der brennenden Sonne ausgesetzt: Sie lässt die Wasseroberfläche verdampfen und deren Feuchtigkeit als Gewitterwolken an den Himmel steigen. Sie werden sich als Wolkenbruch entladen (Wilhelm). An oberster Stelle befindet eine vergiftende Quelle, die einen lähmenden Einfluss auf die fünf Yang ausübt (von Flüe).
Grundbedeutung
Der Durchbruch nach lange angestauter Spannung. Eine Situation hat sich zugespitzt, die Dinge müssen in gua 43 mit Entschlossenheit geklärt werden. Doch sind Vorsicht und Besonnenheit bei der Wahl der Mittel geboten, auf ein gewaltsames Vorgehen muss verzichtet werden.
Urteil- und Linientexte
„Entschieden sollen am Hof des Königs die Missstände bekannt gemacht und die eigene Stadt benachrichtigt werden“ (Urteil) – sinnbildliche Orte des eigenen Selbst. Es gilt, nicht nur die direkte Umgebung, sondern ebenso das vertraute Spiegelbild schonungslos zu betrachten.
Licht und Schatten
Resolute Säuberung, eine Razzia, ein Ausmisten des üblen Yin-Herrn – ein Infektionsherd voller Stolz, Verblendung, Eigendünkel und Egoismen, der eliminiert werden muss. Wird dieser Knoten nicht gelöst, kann daraus ein neurotisch krankhafter Komplex entstehen. Wegschauen, sich einschüchtern lassen hiesse sich selbst zu korrumpieren.

姤
44 gòu / die Verführung
qián, der Himmel
xùn, der Wind
Das Schriftzeichen
Gòu meint „einander begegnen, paaren, aufeinandertreffen“. Ein gleichlautendes Zeichen gòu bezeichnet zwei kämpfende Tiere, die sich mit ihren Hörnern ineinander verwickeln.
Die Trigramme
Der Wind unter dem Himmel – ein laues Frühlingslüftchen umspielt den ehernen Himmel. Ein Prozess der Annäherung der einen Yin-Linie an die übrigen Yang als unmerkliches Eindringen, welche die Yangkraft zu schwächen vermag. Die Mawangdui-Version betont deshalb die erhöhte Wachsamkeit vor diesen ersten Regungen, die sich leicht zu bleibenden schädlichen Einflüssen auswirken.
Grundbedeutung
Verführung und Verlockung – das unterste Yin ist drauf und dran, den fünf männlichen Yang den Kopf zu verdrehen. Die Ängste dieser Yang sind nicht unbegründet, denn es handelt sich um einen veritablen „Wolf im Schafspelz“. In der äusseren Harmlosigkeit und Unauffälligkeit liegt die Gefahr, das Kleingedruckte dieses attraktiven Angebots zu übersehen. Hat sich das Yin jedoch etabliert, hat man sich erst einmal daran gewöhnt, so ist mit fatalen Folgen zu rechnen. Schnell steht dann Wahrhaftigkeit auf dem Spiel. Dennoch müssen Yin und Yang einander begegnen können. Sinnenfreuden und Gelüste wollen gelebt werden, man darf sich durchaus auch verführen lassen. Im Aussergewöhnlichen, Einmaligen dieses gua liegen erstaunliche Potenzen, sodass „alles unter dem Himmel herrlich vorangeht“, wie es ein alter Kommentar ausdrückt. Aber man darf den Reizen dieses Yin nicht blind erliegen, man muss mit ihnen umzugehen wissen, sie in den Griff bekommen – die zentrale, entscheidende Aufgabe dieses gua.
Urteil- und Linientexte
Dem Urteilstext ist das Yin nicht ganz geheuer: „Das Mädchen ist mächtig. Man soll ein solches Mädchen nicht heiraten“, und die unterste Linie gibt zu bedenken: „Auch ein mageres Ferkel hat die Anlage, sich auszutoben“.
Licht und Schatten
Die Ekstase des Schamanen – der Ausdruck von Göttlichem in dionysischem Kleid. Verrücktheiten gehören zum Leben; wie wichtig können sie als Erfahrungsschatz im Werdegang eines (jungen) Menschen sein! Das Extravagante, Anzügliche und Rauschhafte soll seinen Platz finden. Das Yijing warnt jedoch vor dessen Bagatellisierung – „einmal ist kein mal“ – und rät dringend, Zweideutigkeiten und Unklarheiten auszuräumen. Es gilt, Klartext zu reden (innerlich und äusserlich), Stellung zu beziehen. Man muss die Dinge beim Namen nennen, „sich kein x für ein u vormachen“. Gerät das Yin ausser Kontrolle, drohen Abhängigkeit und Sucht.

萃
45 cùi / die Sammlung
dùi, der See
kūn, die Erde
Das Schriftzeichen
Das Zeichen cùi des Textus receptus, ohne Radikal geschrieben, steht für „sammeln, sich versammeln“. Das Mawangdui-Manuskript hat „cu“ und meint einen Soldaten. Wird „cu“ verbal verwendet, bedeutet es „beenden, vergehen, sterben“. In diesem Sinne wurde es als Umschreibung für den Tod eines hohen Beamten benutzt (Hertzer). Die Shanghai Museum-Version wiederum schreibt cùi mit dem Radikal „Mund“ in der Bedeutung „trinken und wild lärmen, heulen“ (Shaughnessy).
Die Trigramme
In einem See sammeln sich die Gewässer der Erde. Kūn unterhalb von dùi bezeichnet ausserdem den Seegrund. Der Gedanke der Sammlung versinnbildlicht zudem die Struktur des Hexagramms: Die beiden Yang scharen alle Yin um sich.
Grundbedeutung
Ein Zusammenschluss, eine einigende Kraft, verbindend und bindend. Eine grössere Institution oder Organisation mit ausgeprägter Hierarchie. Die beherrschenden Yang auf viertem und fünftem Platz, der Ebene von Emotion und Geist, ermöglichen eine ganzheitliche Schau, welche den Menschen zu aussergewöhnlichen Unternehmen befähigt. Diese Zentrierung benötigt ein Haupt, das wahrhaftig bzw. „in sich gemittet“ ist. Nur dann wird diese Autorität (von den Yin) anerkannt. Innere Sammlung braucht Pausen und Ruhe, Auszeiten und Abschalten, Loslassen und Fallenlassen, eine „Kunst des Ruhens“ (Kitzler und Thich Nhat Hanh). Nach Hertzer beschreibt das gua der Mawangdui-Version den Beginn eines grösseren kriegerischen Unternehmens mit dem König (der fünften Linie) als Anführer. Die Soldaten seiner Streitmacht (die vier Yin) sind heterogene Vielgestaltige, die in dieses Heer miteinbezogen werden müssen.
Urteil- und Linientexte
„Der König begibt sich in seinen Tempel und bringt ein Opfer dar“ (Urteilstext): Er kehrt zu den Geistern der Ahnen, zu seinen Wurzeln zurück. Nur durch diese übergreifende Hintergründigkeit (an „heiligem Ort“) gewinnt er die Kraft und die Macht, erfolgreich zu versammeln und zu führen.
Licht und Schatten
Ein blühendes Kollektiv. Reibungslose, erspriessliche Kooperation. Grosse Taten werden vollbracht. Damit diese zustande kommen, braucht es a) eine Persönlichkeit mit Führungsqualitäten, b) Mythos und Symbol und c) das Volk. Wie leicht diese Kombination verheerende Auswirkungen haben kann, zeigt die Geschichte. Deshalb betont das Yijing die unverzichtbare Forderung nach Integrität und Authentizität auf allen drei Ebenen. Das hierarchische Gefälle einer Institution/Organisation beinhaltet gleichzeitig ihre grosse Schwäche: Eine aufgeblähte Bürokratie, Schwerfälligkeit, Unübersichtlichkeit, Staatsmaschinerie sind die Folgen. Die linke Hand weiss nicht, was die rechte tut. Latente Manipulationsgefahr und Machtmissbrauch, Intrigen und Flügelkämpfe verdunkeln schnell einen mit besten Absichten angetretenen Kurs.
Anmerkung
Die Versammlung von gua 45 ist weitaus verbindlicher als die bloss informelle Zusammenkunft des Hexagrammes 8, der Zusammenschluss.

升
46 shēng / der Aufstieg
kūn, die Erde
xùn, der Wind/das Holz
Das Schriftzeichen
Shēng war ursprünglich eine Masseinheit und stellt wahrscheinlich ein Gefäss mit Henkeln dar (Minford). Dessen Inhalt wurde (als Opfergabe?) hochgehoben. Davon abgeleitet wird shēng allgemein als „aufsteigen“ verstanden.
Die Trigramme
Die Wirkungsweise des Elementes Holz oder Wind – das sanft Eindringende – unter/inmitten der Erde ist Sinnbild des pflanzlichen Wachstums, welches in kūn emporwächst. Dieser Prozess benötigt jedoch Kraft, um das Erdreich zu durchdringen (im Gegensatz zum leichten, mühelosen Fortschreiten von gua 35).
Grundbedeutung
„Volle Kraft voraus“ – ein innerer Inhalt nimmt kräftig Gestalt an, die beiden Yang wollen gross hinaus. Gua 46 ist ein Vorwärtsstreben, ein Aufwärtsdrang, ein Aufsteigen verbunden mit Tüchtigkeit, Fleiss und Zielstrebigkeit. „Wo ein Wille ist, ist ein Weg“! Hohe Ziele werden gesteckt. Dabei ist nicht zu vergessen: Es braucht Einverständnis aus übergeordneter Warte, Förderung und sorgfältige Planung, ein Alleingang würde scheitern.
Urteil- und Linientexte
Der Urteilstext betont: „Man muss den grossen Mann sehen!“ Dieser ist matchentscheidend: Das Vorhaben muss besprochen und abgesegnet werden, man braucht Vertrauen und Unterstützung einer höheren Instanz.
Licht und Schatten
Das „Glück der Tüchtigen“: Ein erfolgreicher Werdegang, der zu Würde und Ansehen führt. Der Beginn eines anspruchsvollen Projektes, welches Kraft, Ausdauer und Energie erfordert. Voraussetzung zur Realisierung sind die Gunst der Stunde, der genau richtige Zeitpunkt und ein fördernder Sponsor. Die Kehrseite: Die Verbissenheit des karrieregeilen Strebers, der protzig neureiche Emporkömmling. Eitelkeit und Stolz, die zu einem jähen Fall vom hohen Ross führen. Oder auch: Die verpatzte Laufbahn, die vertane Gelegenheit.

困
47 kùn / die Bedrängnis
dùi, der See
kǎn, das Wasser
Das Schriftzeichen
Kùn stellt einen Baum dar, der umzäunt und umschlossen ist. Das natürliche Wachstum wird gehemmt – das Bild einer durch äusserliche Begrenzung entstandenen Bedrängnis.
Die Trigramme
Kǎn unterhalb von dùi: Die Wasser des Sees laufen aus, versickern, ein Sumpf entsteht.
Grundbedeutung
Eine festgefahrene, mühselige Situation. Die Luft droht auszugehen, man fühlt sich beengt, ausgelaugt, isoliert. Das ehemals fruchtbare Land verödet. In gua 47 findet ein allgemeines Nachlassen der Kräfte statt, ein Schwinden an Energie und Kraft.
Urteil- und Linientexte
Die vitalen Yang (zweite, vierte und fünfte Linie) sind eingeklemmt und können sich nicht entfalten. Der Urteilstext betont, „den grossen Mann zu sehen“, eine Instanz des Vertrauens und der überzeugenden Grundsätze, die trotz aller Unbill nicht aufgegeben werden dürfen. Sonst drohen die abgestandenen, sumpfigen Wasser die Seele zu verseuchen.
Licht und Schatten
Not macht erfinderisch – Solidarität, Fantasie und Widerstand werden geweckt. Den Glauben nicht verlieren, sich nicht entmutigen lassen, auch wenn die Aussicht auf Erfolg gering ist. Es wird eng und die Frage stellt sich: Was lief schief, was habe ich falsch gemacht? Die Kehrseite: Verkennung der eigenen Verstrickung des heraufbeschworenen Unheils. Rundumschläge und Schuldzuweisungen an alle und jede. Übertriebene Opfermentalität, Verblendung und (Selbst)Aufgabe aus purer Verzweiflung.

井
48 jǐng / der Brunnen
kǎn, das Wasser
xùn, das Holz, der Wind
Das Schriftzeichen
Die ursprüngliche Erklärung von jǐng lautet: „Ein Loch in die Erde graben, um Wasser aus der Tiefe herauszuziehen“ (Hertzer). In einem weiteren Zusammenhang werden mit dem Zeichen die Regeln der Wasserverteilung, d.h. eines Bewässerungssystems umschrieben. Nach Schilling schwingen in jǐng auch Untertöne einer „Fallgrube“ mit.
Die Trigramme
„Der Holzeimer xùn steigt hinab in die Erde, um Wasser heraufzuholen“ – die Stellung der Trigramme erinnert an die Bewegung der Tragstangen eines altchinesischen Wippbrunnens. Ebenso versinnbildlicht xùn (dem Element Holz zugehörig) innerhalb von kǎn das im Erdreich verborgene Wurzelwerk der Pflanzen und Bäume, welche das Wasser in ihren Zellen ans Licht hinaufzieht (Wilhelm).
Grundbedeutung
Grundlegende Lebensnotwendigkeiten – der Brunnen als Ausgangspunkt alles Lebendigen. „Zurück zu den Wurzeln“ – eine Rückbesinnung auf die Dinge, auf die es wirklich ankommt. In psychoanalytischer Deutung sind die Wasser des Brunnens ein Symbol des Zugangs zu den Tiefen der Psyche: Aus dem Innersten schöpfen, unbewusste Energien mobilisieren. „Die Wasser des Brunnens erfüllen uns mit etwas Wesentlichem, dessen wir zutiefst bedürfen“ (von Flüe).
Urteil- und Linientexte
Der Urteilstext formuliert die elementare Bedeutung von jǐng treffend: „Man mag die Stadt wechseln, aber kann nicht den Brunnen wechseln. Er nimmt nicht ab und nimmt nicht zu. Sie kommen und gehen und schöpfen aus dem Brunnen. Wenn man beinahe das Brunnenwasser erreicht hat, aber noch nicht mit dem Seil drunten ist oder seinen Krug zerbricht, so bringt das Unheil“. Mit anderen Worten: Was immer du tust und wo immer du bist, der Quell des Lebens ist in dir. Von Zeit zu Zeit schöpfe mit langem Seil und intaktem Schöpfeimer aus den Tiefen des Brunnens, um deine Antriebskräfte anzukurbeln. Wie oft aber die Seele Gefahr läuft, auf ihrem Gang durch die „Wüste des Lebens“ auszutrocknen, zeigen die Linientexte dieses gua in eindrucksvoller Weise (s. unten). Nur dem Yang auf fünftem Platz und dem obersten Yin gelingt es, aus jǐng reines Quellwasser zu schöpfen.
Licht und Schatten
Kostbares, tiefgründiges Erleben – ein wahrer innerer Schatz. Subtiles Horchen auf innere Stimmen, feines Gespür was zählt und was nicht. Wie schnell der Lärm und Staub dieser Welt diese Perle aus den Augen verliert, illustrieren die Autoren des Yijing in den Linientexten anhand eines „zu kurzen Seiles“ (Oberflächlichkeit, Konvention, Nachlässigkeit), eines „rinnenden Schöpfkessels“ (das Bewusstseinsgefäss, das Ich, zerbricht und vermag das Unbewusste nicht mehr aufzunehmen), des „verschlammten Brunnens“ (Vernachlässigung der Innenwelt) und des „eingestürzten Brunnenschachts“ (der komplett rationalen Überdeckung von Psyche und Geist).

革
49 gé / der Umbruch
dùi, der See
lí, das Feuer
Das Schriftzeichen
Gé bezeichnet ursprünglich das Abschaben eines Tierfells, das ungegerbte Rohleder. In übertragenem Sinn wird gé zum „Abstreifen einer alten Haut“, zu „etwas ändern, wandeln, erneuern und umgestalten“. Gé ming ist die „Gunst des Himmels“, dessen Beistand ein chinesischer Kaiser bedurfte. Führte er seine Herrschaft schlecht aus, konnte ihm dieses Mandat vom Himmel entzogen werden. Im heutigen Sprachgebrauch wird gé ming denn auch als „Revolution“ verstanden.
Die Trigramme
Dùi über lí – der See steht über dem Feuer. Beide Kräfte sind in ihrer unvereinbaren Dynamik gegeneinander gerichtet. Dùi lodert aufwärts, der See fliesst abwärts. Dennoch wohnt den beiden Elementen ein reiches Potential an positiver Energie inne: Einsicht und Klarheit auf der einen, Anziehung und Sinnlichkeit auf der anderen Seite als Voraussetzung von Veränderung und Erneuerung.
Grundbedeutung
Radikaler Umbruch, Wende und Umgestaltung. „Es bleibt kein Stein auf dem anderen“. Umwälzung als tief greifende Veränderung, eine grundsätzliche Neuorientierung. Die neuen Inhalte müssen von Anfang an klar und deutlich zur Hand sein. Gua 49 läuft in zwei Schritten ab: Vorerst sind alle hemmenden Umstände auszuräumen, dann gilt es, das Neue rasch einzuführen (Offermann). Nur wenn die Umwälzung ins Innerste eines Menschen trifft, ist sie nachhaltig: Dann schlägt jemand tatsächlich „eine neue Seite im Buch des Lebens“ auf. Ist dies nicht der Fall, zerbröseln die Wirkungen der Veränderung relativ bald. Die Sprengkraft einer Revolution liegt oft eingebettet im Gewand einer bestimmten Philosophie, die von einer charismatischen Führerfigur gelehrt und repräsentiert wird. Oder es ist die Idee allein – ein heiliger Krieg, ein gerechter Kampf – welche Menschen bewegt.
Urteil- und Linientexte
Der Text des Urteils erinnert an die Bedeutsamkeit des richtigen Zeitpunkts – für einen Umsturz „muss die Zeit reif sein“. Dann hat gé „erhabenes Gelingen“, vorausgesetzt die Vorgehensweise bleibt korrekt und umsichtig.
Licht und Schatten
Änderung und Neuerung als ein Akt bewusster Handlung, eine Initiative zum Besseren (Greenpeace, Amnesty etc.). Etwas loslassen, was nicht mehr gebraucht wird. Das Übel an der Wurzel packen. „Flagge zeigen“: Begeisterung und Engagement, für eine Sache einzustehen. Mitglied einer verschworenen Einheit von Gleichgesinnten. Die Gefahr der Eigendynamik einer Revolution: Der Verlust der Kontrolle des Geschehens. Entgleisungen, Wahn, Zerstörungswut – erinnert sei nur an Mao’s Kulturrevolution und die Millionen von Opfern, die sein Motto „Zerstört das Alte, errichtet das Neue!“ mit sich brachten.

鼎
50 dǐng / der Dreifuss
lí, das Feuer
xùn, das Holz, der Wind
Das Schriftzeichen
Dǐng zeigt einen Kessel auf drei Beinen. Bereits aus dem Neolithikum bekannt sind Tongefässe in Form von Dreifüssen, welche als Kochtöpfe über ein Feuer gestellt wurden. In der Epoche der Späten Shang und Frühen Zhou (ca. 11.-8. Jh.v.Chr.) entwickelten sich daraus die imposanten dǐng-Bronzekessel. Reich verziert mit Mustern, die an Tiermasken und Geistwesen schamanischer Erfahrungswelten erinnern, erreichten die kunstvoll gearbeiteten Ritualgefässe sowohl in der Ahnenverehrung wie als Insignien königlicher Macht und Legitimität Kultstatus. Der Archetypus der Verwandlung und Läuterung ist offenkundig: Die Opfergabe, das „Rohmaterial“, wird gekocht, „verfeinert“ und dadurch in eine sublimierte Substanz umgestaltet, um sie den Ahnengeistern darbieten zu können.
Die Trigramme
Das Holz als Nährboden des Feuers. Aus dem Zusammenwirken der beiden Elemente entstehen Licht und Wärme. Xùn und lí repräsentieren nicht nur eine der Existenzgrundlagen alles Lebendigen, sondern stellen auch die Grundbedingung für alle zivilisatorischen Errungenschaften des Menschen dar (Hertzer). Der Aufbau des Hexagramms erinnert zudem an die Form eines Dreifusses: Die unterste geteilte Linie stellt die Füsse dar, die ganzen Linien 2, 3 und 4 den festen Körper, den Bauch des Gefässes, die fünfte geteilte Linie die zwei Griffe (oder Henkel), und der oberste ausgezogene Strich die Tragstange, die durch die beiden Henkel gesteckt werden kann, um den Dreifuss zu heben oder über einem Feuer aufzuhängen.
Grundbedeutung
Steigerung und Veredelung des Gewöhnlichen zum Besonderen, Verfeinerung des Lebensnotwendigen zu Kultur, Philosophie und Religion. Das Gefäss der Zubereitung der geistigen Nahrung. Gua 50 spricht explizit von einem möglichen höheren Sinn – dǐng fordert dazu auf, die Dinge in einem umfassenden Zusammenhang zu sehen. Der Dreifuss beinhaltet die geistigen Kräfte, die uns zur Verfügung stehen. Es sind Gärungs- und Wandlungsprozesse, die zu Erkenntnis und Spiritualität führen, sie gewähren einen Zugang zu Hintergründigem und Unbekanntem.
Urteil- und Linientexte
Die Linientexte erörtern, wie dieses Gefäss getragen und mit seinem Inhalt umgegangen werden kann. Wird diese anspruchsvolle Aufgabe erfolgreich angegangen, so hat sie „erhabenes Gelingen“ (Urteil).
Licht und Schatten
Kultivierung und Individuation. Liebe zu Musik, Literatur, Malerei. Vom Handwerk zur Kunst, vom Profanen zum Sakralen: Neu-Schöpfung, Originalität, Einzigartigkeit. Ganzheitliches Erfassen und Erfahren, Tiefgründigkeit, ein Sensorium für Spiritualität. Doch – in den Worten der Linientexte – ist die Gefahr gross, dass dem Dreifuss „die Beine brechen“, „die Henkel beschädigt“ werden, dass er nicht mehr getragen werden kann, oder dass er „umgeworfen und sein Inhalt verschüttet“ wird. Es sind starke Bilder der Ahnungslosigkeit, Verkennung und Ignoranz, die den Menschen auf seinem Weg zu Sinn und Erkenntnis behindern und verblenden.

震
51 zhèn / der Donner
zhèn, der Donner
zhèn, der Donner
Das Schriftzeichen
Zhèn bezeichnet das explodierende Geräusch, welches auf einen Blitzschlag folgt. Dies sei ein „schneidendes Krachen“, es gebe auch den eher „schwingend“ tönenden Donner (Schilling, nach dem Shuowen). Nach altchinesischer Vorstellung entspricht das Erregende des Donners dem Frühlingserwachen, da zhèn die in der Erde schlummernden Wachstumskräfte (nach der Winterruhe) erweckt. Im Buch der Lieder (Shijing) wird zhèn verwendet, um das bewegende Ereignis der Geburt eines Kleinkindes zu umschreiben.
Die Trigramme
Der doppelte Donner: Die aufsteigende Yangkraft bahnt sich ihren Weg in mächtigem Aufwärtsdrang von unten/innen und wird empfangen von der offenen Aufnahmebereitschaft der Yin. Zhèn – heftige Gewitter, Blitz und Donner gehören zu den eindrucksvollsten und furchterregendsten Phänomenen der Natur (Minford).
Grundbedeutung
Ein Paukenschlag, ein Erdbeben, ein jäher Vulkanausbruch. Mit Wucht entsteht Neues, das man nicht mehr im Griff zu haben glaubt. Es brechen Dinge hervor, die sich (schon lange?) angestaut haben. Man wird im Innersten aufgerüttelt und durchgeschüttelt, ist aufgewühlt und erregt.
Urteil- und Linientexte
Der Urteilstext mahnt, trotz der Erschütterung nicht die Ruhe zu verlieren, standhaft zu bleiben, nicht Hals über Kopf zu fliehen: „Er lässt nicht Opferlöffel und Kelch fallen“. Schliesslich folgt dem Donnergrollen die grosse Erleichterung: „Zuerst erzittern sie, dann lachen sie“.
Licht und Schatten
Man könnte in Panik geraten, eine Gänsehaut bekommen, „es läuft einem kalt den Rücken hinab“, dann aber folgen Beruhigung, Entspannung, Neuorientierung (Offermann). Selbstbehauptung in stürmischen Zeiten verleiht Stärke: „Komme was da wolle, so schnell haut mich nichts mehr um!“ Ein plötzliches Bewusstwerden einer Situation, „es gehen einem die Augen auf, es schlägt ein wie eine Bombe“ im Sinn einer instinktiv wahren Erkenntnis, die ein aktives Handeln nach sich zieht. Gefährlich wäre es, sich in einem „dauerhaften crescendo“ vor lauter Aufregung aufzureiben. Man muss verhindern, vom Strudel der Ereignisse mitgerissen zu werden. Nicht vor Schreck erstarren oder wie gelähmt in einem Sumpf feststecken, aus dem es schwierig wird hinauszufinden.

艮
52 gèn / der Berg
gèn, der Berg
gèn, der Berg
Das Schriftzeichen
Die Bildlichkeit von gèn zeigt ein grosses Auge, das auf einen Menschen gerichtet ist. Dies evoziert eine verweilende, prüfende Betrachtung (Zimmermann/Schilling). Kunst und Smith interpretieren gèn als „spalten, an etwas haften, festhalten“ im Zusammenhang mit der Tötung von Opfern im Ahnenkult. Spätestens seit der Frühen Han-Zeit wandelte sich die Lesart des Zeichens zum traditionellen Verständnis der „Stille, Selbstbeherrschung und dem Innehalten“. In einigen frühen Transkriptionen wird gèn zusätzlich mit dem Baum-Element geschrieben und erzeugt damit die Vorstellung der „Wurzel, bzw. eines Stammes, der in etwas wurzelt“ – ein Aspekt, der im Verständnis des Zeichens in der Mawangdui-Version mitschwingt (Hertzer).
Die Trigramme
Der doppelte Berg: Die angereicherte Substanz des Yang über dem tragenden Grund der Erde (den beiden Yin). Die Yang-Linie symbolisiert die Spitze des Berges, die in den Himmel aufragt. Der mächtige Berg strahlt Ruhe und Festigkeit aus. Berühmtheit erlangten die „Fünf heiligen Berge“ des Alten China als Orte des Rückzugs von Gelehrten, Malern, Poeten und Eremiten.
Grundbedeutung
Ruhe, Zurückhaltung, Verdichtung und Tiefe. „Der Berg“ besitzt einen hohen Grad an Bestimmtheit (von Flüe). Gua 52 meint aktive Stille, einen anspruchsvollen Prozess des Innehaltens mit dem Ziel, zum „inneren Reichtum des Berges“ zu finden. Konzentration, Kontemplation und Meditation – der Mensch, versunken in sich selbst. Anders als in vielen Hexagrammen erreicht die Entwicklung hier in der obersten Yang-Linie ihren Höhepunkt und Abschluss – auf dem Weg dorthin gibt es viel Ballast, der abgelegt werden muss.
Urteil- und Linientexte
„Er hält den Rücken still wie ein Berg, empfindet seinen Körper nicht mehr, geht in den Hof und wird nicht gesehen“: Urteil- und Linientexte erwähnen verschiedene Körperteile, die gepflegt und still gehalten werden müssen. Gao Heng und Li Jingchi deuten die Texte dieses gua als Hinweise auf frühe Praktiken der Meditation und der Traditionellen Chinesischen Medizin.
Licht und Schatten
Besonnenheit und Zurückgezogenheit, innere Sammlung und Konzentration. Innehalten, zentrieren, fest- und geradestehen, die Mitte erreichen. Gua 52 ganz profan: Sich eine Pause gönnen, Siesta geniessen, ausspannen. Regeneration der Vitalität. Absage an Hektik und Aktivismus. Die Gefahr der lastenden Schwere des Berges: Unterdrückung jeglicher Leichtigkeit des Seins. Versteifte Unbeweglichkeit, Starrheit und Sturheit, übermässiges Fixieren und Einfrieren. Erzwungene Askese und Lebensfeindlichkeit.

漸
53 jiàn / der Reifeprozess
xùn, der Wind, das Holz
gèn, der Berg
Das Schriftzeichen
Jiàn bezeichnet das „Eintreffen von Vögeln“, jiàn zhi „die allmähliche Ankunft an einem Ort“ (Schilling).
Die Trigramme
„Holz auf dem Berg“ evoziert einen alten knorrigen Baum, thronend auf einer Anhöhe. Dank seinem tiefverankerten Wurzelwerk hält er Stürmen und Unwettern stand und wächst über die Jahre zu einer die Umgebung prägenden Gestalt heran (Wilhelm).
Grundbedeutung
Organische Entwicklung, ein natürlicher Reifeprozess. Jiàn beschreibt das langsame Wachstum in der Natur, ein stetiges, allmähliches Werden und Gedeihen. Eine dauerhafte Beziehung entwickelt sich nicht über Nacht. Sie entsteht während längerer Zeit, nur so wächst gegenseitiges Vertrauen. Persönlichkeit und Originalität entwickeln sich langsam, wie ein Baum (Minford). Ungeduld und Hektik sind dieser aus innerer Sammlung hervorgehenden Entfaltung diametral entgegengesetzt.
Urteil- und Linientexte
Die Linientexte verwenden die aus dem Shijing, dem „Buch der Lieder“, bekannte Metapher des „allmählichen Eintreffens der Wildgänse“. Der herbstliche Vogelzug der Wildgänse weckt Melancholie und wird in der altchinesischen Dichtung gerne als Bild der Trauer und Trennung verwendet. So spricht die dritte Linie von einem Mann, der auszieht (auf einen Kriegszug?), aber nicht zurückkehrt. Dies steht jedoch im Gegensatz zu dem ganz auf Wachstum ausgerichteten Charakter dieses gua, denn gemäss dem Urteilstext wollen sich die Partner verbinden („das Mädchen heiratet“), man sucht sich, die „schwangere Frau“ der fünften Linie will ihr Kind zur Welt bringen.
Licht und Schatten
„Ein guter Wein benötigt Zeit“: Nachhaltigkeit als Ergebnis eines stetigen Prozesses. Die Chance, die gua 53 bietet: Man findet langsam zu seinem Platz, zum eigenen Standpunkt, zu sich selbst. Schrittweises Vorangehen zu einem Ziel – Druck und Manipulation würden nur erschöpfen. Wird „die Flinte zu früh ins Korn geworfen“, käme dies einem frustrierenden Abbruch, einem verfrühten Scheitern und Aufgeben, einer Totgeburt gleich.

歸妹
54 gūi mèi / die Heirat
zhèn, der Donner
dùi, der See
Die Schriftzeichen
Gūi mèi bedeutet allgemein die „Hochzeit junger Frauen“, im besonderen „das Verheiraten der jüngeren Schwestern“. Bereits in den Orakelknocheninschriften steht gūi für das „Einkehren“ der Braut ins Haus des Bräutigams.
Die Trigramme
Dùi, der „lächelnde See“, Lust und Liebe versprechend, trifft auf die erregende Dynamik von zhèn, dem Donner – es walten emotionsgeladene Anziehungskräfte, die einiges an Konfliktpotenzial bergen.
Grundbedeutung
Dem Ruf des Herzens folgen. Aus Freude und Neigungen Unternehmungen wagen. „Es sticht einen der Hafer“. Eros – der Reiz des Lebens – steckt in diesem gua und führt immer ein Risiko mit sich. Die Lebenserfahrung zeigt, es ist ein schwieriger Tanz von dùi und zhèn: Denkt man das Liebliche, Reizende, Schillernde, Lockende mit dem Impulsiven, Überstürzenden, Brodelnden zusammen, dann wird klar, wie heikel die Zusammenkunft dieser beiden Kräfte ist. Das Schönste, was einem „heiratenden Mädchen“ passieren kann, ist eine Liebesheirat einzugehen.
Urteil- und Linientexte
Die Texte der Linien und des Urteils stellen das Ungemach der Verstrickungen in den Vordergrund, die den Versprechungen, Begehrlichkeiten und Gelüsten dieses gua folgen. Dennoch: Verliebtheit will Vereinigung, daraus entsteht ein Kind, etwas Neues, Fremdes – das Leben will es so, das Leben will Leben (von Flüe)!
Licht und Schatten
Glücklich der Mensch, der seinen Neigungen folgt und dabei nicht ins Unglück gerät! Man lässt sich von der Lust, dem See, inspirieren und vom Donner bewegen: Aller Vorsicht zum Trotz wagt er/sie, seinen/ihren Gefühlen bedingungslos zu folgen. Lustvolle Anziehung und Vereinigung als beglückende Erfahrung – das „Salz und Pfeffer des Lebens“. Das Liederliche dieses Hexagrammes liegt im Missbrauch des Reizvollen in allen Schattierungen in Kombination mit dem Gewaltpotenzial von zhèn – ein unheilvoller Mix! Ein mögliches bitteres Ende: Man erliegt einer blossen Illusion ohne nennenswerten Gewinn, ein ernüchtertes Erwachen erfolgt „am Morgen danach“. Soll die Verbindung zwischen den ungleichen Partnern bestehen, braucht es Respekt und ein tolerantes Verständnis für das jeweilig „ganz Andere“ (Offermann). Geht dies verloren, drohen Beziehungsverlust, eine Verletzung des Partners und schliesslich die Scheidung. Eine weitere Variante der Dunkelseiten dieses Hexagrammes: Lustbefriedigung durch Konsum, Shopping als Ersatzvergnügen, käuflicher Sex.

豐
55 fēng / der Reichtum
zhèn, der Donner
lí, das Feuer
Das Schriftzeichen
In den Orakelknochen- und Bronzeinschriften bezeichnet fēng ein mit Getreide gefülltes Opfergefäss (Schilling, Hertzer). Davon abgeleitet bedeutet das Zeichen in späteren Texten „reichlich und viel vorhanden“. Fēng ist zudem der Name für eine der zeitweiligen Hauptstädte wie auch für eines der grossen Opferrituale der Frühen Zhou. Dieses fēng-Ritual zur Zeit der Sommersonnenwende bekräftigte die Fruchtbarkeit der Erde, die der Herrscher sicherstellen musste.
Die Trigramme
Blitz und Donner an dunklem Himmel – eine Fülle an Kräften, die sich in einem Augenblick grösster Spannung entladen. Das erleuchtende Gewitter: Lí als Geistesblitz, zhèn als aufrüttelnde Eindringlichkeit – Momente überwältigender Erkenntnis und Bewegtheit.
Grundbedeutung
Ein Höchstmass an Reichtum und Überfluss. Es liegt in der Natur eines absoluten Höhepunkts: Er markiert das Ende einer linearen Entwicklung. Dieses Maximum lässt sich nicht auf Dauer aufrechterhalten. Lí und zhèn zünden ein spontanes Feuerwerk an Inspiration, erregen Geist und Psyche. Dabei wird klar: „Das zählt, das ist wahr, das macht Sinn“ (von Flüe)!
Urteil- und Linientexte
Wie schwierig fēng zu erlangen ist, illustrieren die Linientexte in eindrucksvollen Bildern: Die verfinsternden Schleier sind zuweilen von einer Dichte, dass man selbst „am Mittag die Polsterne sieht“. Nur „dem König“ gelingt die Fülle (Urteil). Findet er sie, soll er sich „nicht sorgen, sondern wie die Sonne am Mittag gelassen weiter ziehen“.
Licht und Schatten
Alle Möglichkeiten sind ausgeschöpft, mehr geht nicht – die Spitze der Hochkonjunktur und des Wohlstandes ist erreicht. Ein Lichtblitz, ein geistiger Höhenflug, euphorisierend und erhellend. Ein Moment der Erkenntnis durchdringendster Wahrheit. Die zentrale Frage dieses gua lautet: Was beseelt, was bedeutet Erfüllung, wo suche ich danach? Blenden lí und zhèn zu sehr, entstehen Hochmut, Wichtigtuerei, Missionierung. Oder es bleibt beim Flackern eines fernen Wetterleuchtens: Leere Einbildungen, die weder bereichern noch beflügeln. Die traurige Konsequenz: Ein verblasster Geist, eine verkümmerte Seele.

旅
56 lü / der Wanderer
lí, das Feuer
gèn, der Berg
Das Schriftzeichen
Lü zeigt Menschen unter/neben einer Standarte oder Flagge. Gemeint ist eine Schar Soldaten, die die Grenze des Reiches bewachen. Davon abgeleitet bezeichnet lü allgemein Fremde, Gäste und Besucher. Zur Zeit der Entstehung des Yijing zogen hauptsächlich Fürsten und Soldaten, Händler und Hirten umher. Reisen galt nicht als Vergnügen, viel eher wurde es als eine vom Schicksal auferlegte Mühsal verstanden (Hertzer, Minford).
Die Trigramme
„Das Feuer auf dem Berg“ spiegelt das Lagerfeuer von Leuten, die in der Wildnis nächtigen. Gèn und lí sprechen auch von den Eigenschaften, über die ein Wandernder idealerweise verfügen sollte: Innere Ruhe, Orientierung und Klarheit. Das „Feuer auf dem Berg“ markiert zudem einen Übergang, einen Pass, der zu neuen Ausblicken führt.
Grundbedeutung
Der Mensch als existentiell Reisender, Unsicherheiten und Gefahren ausgesetzt. Woher kommen wir, wohin gehen wir, wo gehören wir hin? In gua 56 weht der Geist der Heimatlosigkeit und der Melancholie, aber auch die Sehnsucht der Wanderlust, des freudigen Aufbruchs und der Neuentdeckung. Die Lehr- und Wanderjahre: Wer reifen und er-fahren will, muss Tür und Tor verlassen. Jede Reise ist ein Wagnis – wir wissen nie, ob und wie wir zurückkehren: Verändert, erfüllt, enttäuscht, verletzt?
Urteil- und Linientexte
Die Texte mahnen deutlich: Der Wanderer tut gut daran, sich seiner Rolle als Gast bewusst zu sein. In der Fremde sind Yin-Qualitäten gefragt: Respekt, Anpassungs- und Lernfähigkeit, Bescheidenheit und Aufnahmebereitschaft. Fehlen ihm jedoch Offenheit und Zurückhaltung, „verbrennt ihm sein Nest“ (Text zur obersten Linie).
Licht und Schatten
Aufbruch ins Unbekannte, zu neuen Horizonten, die Geist und Herz weiten. Die Kunst des Reisens: Welterfahrung, Lebenserfahrung, Selbsterfahrung. Wirkliche Wanderschaft erfordert ein bestimmtes Niveau: Man muss sehen, hören und verstehen können. Oberflächliches Reisen, gescheitertes Reisen – in Varianten: Der Einzelgänger verliert sich in Isolation und Aussenseitertum, der rastlose globale Nomade (wie auch der Pauschaltourist) bewegt sich in seiner Blase, der Stubenhocker bleibt im konventionellen Rahmen stecken.

巽
57 xùn / der Wind
xùn, der Wind, das Holz
xùn, der Wind, das Holz
Das Schriftzeichen
Die älteste Schreibweise von xùn zeigt zwei vor einem Altar kniende, opfernde Menschen. Dieses „sich beugen“ wurde auf Gräser und Korn übertragen, die der wehende Wind biegt. Traditionell stellt xùn die sanfte Wirkungsweise des Windes dar, der in jede Ecke und Ritze eindringt. Eine im Alten China bekannte Metapher sieht im Wind den über alle Landesteile sich ausbreitenden, kultivierenden Einfluss des Herrschers. Die Mawangdui-Version schreibt anstelle von xùn das Zeichen suan, welches ursprünglich das Errechnen und Auszählen der Schafgarbenstängel des Yijing-Orakels bezeichnete und damit allgemein auf „das Ergründen des dao von Himmel, Erde und Mensch“ verweist (Hertzer).
Die Trigramme
Der verdoppelte Wind: Das weiche Yin dringt von unten/innen in die Sphäre der hellen Yang ein – wie die im Dunkel der Erde verborgenen Wurzeln eines Baumes, die dem Licht zustreben.
Grundbedeutung
„Steter Tropfen höhlt den Stein“ – Eindringlichkeit erzeugt allmähliche Wirkung. Der Weg ist das Ziel. Ein behutsames Vorgehen, Schritt für Schritt, das langsam Gestalt annimmt. Gua 57 zeigt die reine Wirkkraft des Yin, der es jedoch an Entschiedenheit und Deutlichkeit des Yang mangelt (von Flüe). Eng verwandt mit xùn ist das qi der Traditionellen Chinesischen Medizin, der Atem, der Hauch, die subtile Lebensenergie, die es zu pflegen gilt.
Urteil- und Linientexte
Der Urteilstext erinnert daran, dass Nachhaltigkeit nur erreicht werden kann, wenn „man weiss, wohin man geht“. Das Ziel darf nicht aus den Augen verloren werden.
Licht und Schatten
Mit Geduld und sanfter Beharrlichkeit einer Vision, einer Verpflichtung folgen. Während längerer Zeit in eine bestimmte Richtung gehen und begleiten, auf diese Weise „konkret werden“. Aufmerksam „bei der Sache sein“, nachschauen und prüfen. Die Schwäche dieses gua zeigt sich in Diffusität und Orientierungslosigkeit. Dinge zerbröseln, Pläne lösen sich in Luft auf. Willensschwäche, die vor jeder Aufgabe zurückschreckt. Oder auch: Leere Betriebsamkeit ohne wirkliche Bestimmung, die sich in Übereifer verzettelt.

兌
58 dùi / der See
dùi, der See
dùi, der See
Das Schriftzeichen
Dùi gehört zu einer grossen Wortfamilie, die sich um die Grundbedeutung „lichten, lösen, klären“ dreht. Dùi wird auch als „yu“ und „yue“ im Sinn von „freudig gelöst“ gelesen (Schilling). Das Mawangdui-Manuskript schreibt anstelle von dùi das Zeichen duo. Der Akzent von duo, „auflösen“, liegt auf „wegnehmen“ und „ausziehen“. Laut Hertzer versinnbildlicht die obere Yin-Linie einen schillernden Vogel, der jemandem aus der Hand (der beiden Yang-Linien) davon fliegt: Das entweichende Yin, der Verlust eines kleinen Glücks.
Die Trigramme
Zwei Seen: Als Naturbild stellt die weiche Yin-Linie die spiegelglatte Wasseroberfläche über der Tiefe (der beiden Yang) eines Sees dar. Dieser doppelt „lächelnde See“ ist eine ungetrübte Freude, eine Augenweide – an seinen Ufern lässt man sich gerne nieder.
Grundbedeutung
Heiterkeit, Sympathie und Lebensfreude. Gua 58 verbreitet frohe Stimmung, es ist ein Ort der emotionalen Zuwendung, des lockeren und beglückenden Austauschs. „Aneinander haftende Seen“ umschreibt im Chinesischen „zwei Freunde, die gut miteinander arbeiten“. Das Hexagramm wird traditionell dem Herbst, dem farbenprächtig-verschwenderischen Höhepunkt des jahreszeitlichen Zyklus zugeordnet. Die Arbeit des Sommers ist getan, Früchte und Korn sind geerntet, es ist „Feier-Abend“, Fest-Zeit.
Urteil- und Linientexte
Der Vogel der Mawangdui-Version, der so schnell entwischt: Unbeschwertheit und Zufriedenheit kommen leicht abhanden. Urteil- und Linientexte erinnern an die hohe Kunst, innere Freude und Heiterkeit zu wahren.
Licht und Schatten
Ein genussvolles, fröhliches Miteinander – unvoreingenommen, offen und inspirierend. „Freundlichkeit gewinnt die Herzen der Menschen“ (Wilhelm). Die entscheidende Frage dieses Hexagrammes ist: Was bereitet echte Freude, was ist blosser momentaner Lustgewinn? Die Dunkelseite dieses gua lockt mit leeren Versprechungen, neigt zu Verspieltheit und Verführung (der Syrenen und Nymphen), gaukelt Trugbilder vor. Unversehens verwandelt sich der See in einen trüben Sumpf der Begierden: Wenige Schritte nur führen von der Lust zur Sucht, zu Hedonismus und Prostitution.

渙
59 huàn / die Auflösung
xùn, der Wind
kǎn, das Wasser
Das Schriftzeichen
In seiner ursprünglichen Bedeutung drehte sich huàn um das Hervorspritzen von Blut (bei der Kastrierung von Tieren) oder medizinischen Eingriffen (durch Akupunktur?), sowie um das Hervorquellen von Wasser, das zu einer Flutwelle emporsteigt. In huàn schwingt die Erfahrung eines über die Ufer tretenden Flusslaufes mit, dessen Wassermassen alles überschwemmen, „sich ausdehnen“ und deshalb schliesslich auflösen – ein im Alten China wiederkehrendes und gefürchtetes Naturereignis.
Die Trigramme
Der „Wind über dem Wasser“ deutet auf einen heftigen Sturm, der Wellen aufschäumt und Wasser zerstäubt. Ein anderes Bild sieht in xùn eine sanfte Frühlingsbrise, die das Eis des Winters, kǎn, auftaut (Wilhelm).
Grundbedeutung
Ein Stau, der sich auflöst. Huàn ist ein Zustand, in dem sich ein Knoten zu lösen beginnt. Ein Zerstreuen und Zerteilen setzt ein, das zu einer neuen Gestalt und Dynamik führt (Minford).
Urteil- und Linientexte
Die Überwindung der Gefahrenherde – der risikoreichen „Durchquerung des Grossen Wassers“ des Urteils – erfordert ein Verständnis der Lage, den Mut zum ersten Schritt und die Gewissheit, im Sinne eines höheren Zieles zu handeln („der König sucht den Tempel seiner Ahnen auf“). Die Linientexte illustrieren einzelne Aspekte und Stufen der Loslösung, von der meditativen Selbstvergessenheit der dritten bis zur existentiellen Auslöschung (der „Auflösung des eigenen Blutes“) der sechsten Linie.
Licht und Schatten
Man entdeckt des Rätsels Lösung: Ein ungesundes Knäuel lässt sich entwirren, eine alte Problemlage entflechten, ein Knopf geht auf. Das ständige krankhafte Kreisen um den Komplex kǎn hat aufgehört, xùn setzt Energien frei und lässt sie wieder fliessen. Gelingt die Versöhnung nicht, entstehen Abweisung, Verhärtung, Groll.

節
60 jíe / die Begrenzung
kǎn, das Wasser
dùi, der See
Das Schriftzeichen
Jíe verweist ursprünglich auf den Knoten eines Bambus. Dieser unterteilt und verbindet das Rohr der Pflanze. Davon abgeleitet bezeichnet jíe jede Art der Einteilung und Gliederung und besonders die Unterteilung der Jahreszeiten mit ihren verschiedenen Ritualen und Feierlichkeiten (Hertzer).
Die Trigramme
Viel Wasser strömt in den See. Dùi besitzt jedoch eine begrenzte Fläche, die nur eine gewisse Menge an Wasser aufnehmen kann. Damit kein Schaden entsteht, müssen kǎn und dùi eingedämmt werden.
Grundbedeutung
Gliederung und Einteilung. In gua 60 weht der Geist der Mässigung, der Sparsamkeit, der Selbstbeschränkung. Struktur und Regelmass schaffen Ordnung und Übersichtlichkeit als unabdingbare Voraussetzung von Freiheit. Das Hexagramm stellt die elementare Frage: Wo setze ich meine Grenzen? Wo will oder muss ich mich zurückhalten? Welche Beschränkungen sind selbst auferlegt, welche fremdbestimmt?
Urteil- und Linientexte
„Nicht zu Tür und Hof hinausgehen“ kann als „süss“ oder „bitter“ erfahren werden – die Texte zu den Linien beschreiben in einprägsamen Bildern die unterschiedlichen Facetten von jíe.
Licht und Schatten
Entfaltung innerhalb eines gesunden Rahmens. Sich auf Wesentliches beschränken, Grundlagen gewinnen, die Orientierung verleihen. Ordnendes Trennen, Kadenz und Rhythmus schaffen. Eine Balance muss gefunden werden zwischen Selbstbeschränkung und Freiheit. Wird diese Mitte verfehlt, entstehen Sturheit, Härte, übertriebene Prinzipientreue oder sie führt zu destruktiver, (selbst)zerstörerischer Masslosigkeit, die keine Grenzen kennt.

中孚
61 zhōng fú / die Wahrhaftigkeit
xùn, der Wind, das Holz
dùi, der See
Die Schriftzeichen
Zhōng ist „die Mitte“, fú zeigt eine Hand über einem Kind (oder die Kralle eines Vogels über ein Junges). Das Zeichen wird kontrovers gedeutet. Einerseits wird fú als das „Bebrüten eines Eies“ interpretiert. Die „Hand über dem Kind“ wird als schützende Geste gesehen, die das neu entstehende Leben behütet. Davon leitet sich das traditionelle Verständnis (seit der Han-Zeit) von fú als „Treue, Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit“ ab (Schilling, Wilhelm). „Das Junge in der Kralle eines Vogels“ erscheint in frühen paläographischen Texten jedoch auch im Sinne von „Beute“ und „Gefangenes“ (Kunst, Rutt). Die Lesart des Zeichens ist für die Interpretation vieler Textstellen im Yijing entscheidend: Drückt fú eine„tiefe Wahrheit“ eines Sachverhalts aus, oder – wie manche Sinologen heute vermuten – weist das Zeichen nicht vielmehr auf die verbreitete Praxis zur Zeit der Entstehung des Yijing, nach welcher „Beute und Kriegsgefangene als Opfergaben“ in rituellem Kontext unverzichtbar waren?
Die Trigramme
Eine sanfte Brise weht über den See – xùn über dùi vermittelt die Vorstellung eines harmonischen Zusammenwirkens der Elemente Wasser und Wind. Die Gestalt des Hexagramms – die zwei empfänglichen Yin eingebettet von festen Yang – widerspiegelt einen weichen Kern (das Innere eines Eis), umfasst von einer äusseren Schale (Hertzer). Damit verbunden ist der Gedanke einer gelungenen Balance von Hartem und Weichem, von Yin und Yang.
Grundbedeutung
Authentizität, Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit. Das „leere Zentrum“ der beiden Yin ist bedeutsam: Die Unvoreingenommenheit des Herzens ist die Grundvoraussetzung für das Gedeihen und die Aufnahme von Innerer Wahrheit. Der Mensch gleicht in diesem gua einem „Tor von Himmel und Erde“: Er erhält Impulse von „oben und unten“, von Geist und Instinkt, die befruchten. Das „leere Boot“ dieses gua (das Holz über dem See) entspricht Chuang-tse’s Bild des Daoisten als einem „Wandernden in der Welt, der sein Selbst leert“.
Urteil- und Linientexte
Wahrhaftigkeit strahlt aus, so dass selbst „Fische und Schweine“ – nach chinesischer Auffassung die „ungeistigsten“ Tiere – davon berührt und beeinflusst werden. Der Weg, der zu Innerer Wahrheit führt, ist anspruchsvoll, innere Reife und Ruhe sind unabdingbar. Doch zweifellos ist es „glücksverheissend, den grossen Strom zu überqueren“, wie es der Urteilstext empfiehlt.
Licht und Schatten
Aufrichtigkeit und Vertrauen in und zu sich selbst. Gua 61 verfügt über ein untrügliches Gespür für Wahr und Falsch. Eine Wahrhaftigkeit, die aus dem Innersten kommt und überzeugt. Diese Fähigkeit des subtilen In-sich-Horchens erfordert eine gewisse Pflege. Leicht übertönt der Lärm der Welt diese Stimmen. Gerät der innere Kompass in Verwirrung, drohen Unachtsamkeit, Orientierungslosigkeit und Unehrlichkeit.
Anmerkung
In seiner wegweisenden Dissertation „The original I Ching“ von 1985 widmet sich Richard Kunst ausführlich der Etymologie des Zeichens fú. In frühestem Kontext (der Shang- und Westlichen Zhou-Dynastien, 11.-7. Jh.v.Chr.) bezeichnete es wahrscheinlich „die Kriegsbeute für rituelle Opfergaben“. Kunst gelang es aber nicht, den Bedeutungswandel des Zeichens bis zum han-zeitlichen (ab 2.Jh.v.Chr.) Verständnis von „Aufrichtigkeit, Treue, Ehrlichkeit“ überzeugend nachzuweisen. Fú ist ein schönes Beispiel für die Mehrdeutigkeit der altchinesischen Schriftzeichen. Sicher ist: Einen „Urtext“ des Yijing hat es nie gegeben, wohl aber mündlich überlieferte Traditionen, die variantenreich mit den archaischen Sinnbildern spielten. Dennoch ist in den heute frühesten erhaltenen Manuskripten aus dem 3.-4. Jh.v.Chr. eine Textgestalt erkennbar, die überraschend klar fixiert ist und mit dem Textus receptus in weiten Teilen übereinstimmt.

小過
62 xiǎo gùo/ die Unzulänglichkeit
zhèn, der Donner
gèn, der Berg
Die Schriftzeichen
Xiao ist „das Kleine, Geringe, Wenige“, gùo meint „vorübergehen, darüber hinausgehen, überschreiten“. Xiao gùo bedeutet somit „übertreiben, verfehlen, ein Übermass an Ungenügendem“ (Hertzer, Schilling).
Die Trigramme
Blitz und Donner auf dem Berg. Ein Gewitter im Hochgebirge ist ein faszinierendes Schauspiel. Doch ist es ratsam, sich diesen Naturgewalten nicht schutzlos auszusetzen. Zur Struktur des Hexagrammes: Die schwachen Yin sind im Übergewicht und stehen zudem an einem Ort (im „Aussen“), an dem sie ihrer Natur nach nicht hingehören.
Grundbedeutung
Dieser Boden trägt nicht: Man steht auf schwachen Füssen, auf schwankendem Grund. Gua 62 illustriert eine schadhafte Situation voller Unzulänglichkeiten, die nicht viel verträgt. Der Mensch als „eingeschlossenes Yang“ ist auf sich selbst gestellt und muss schauen, wie er in dieser dürftigen Zeit zurecht kommt. Weder findet er Führung (von den Yin oben), noch findet er Halt (von den Yin unten). Angesichts der Widrigkeiten ist es wichtig, die instinktive Orientierung nicht zu verlieren, zu spüren, was drin liegt und was nicht. Schafft er den Gang durch diese Wüste, kommt ihm am Ende jedoch Heilung zugute.
Urteil- und Linientexte
Die schwierigen Umstände lassen keine hochfliegenden Pläne zu: Die Texte mahnen einen Vogel, sich nicht in himmlische Höhen aufzuschwingen, sondern sich auf seinen Lebensbereich zu beschränken.
Licht und Schatten
Die limitierten Möglichkeiten müssen berücksichtigt werden. Man fühlt sich im Stich gelassen, unverstanden, auf sich selbst zurückgeworfen. Die Tugend von gua 62: Die Mühseligkeiten und kleinlichen Mühen mit Demut und Gelassenheit auf sich nehmen. Selbstkritik, Redlichkeit, Umsicht und Aufmerksamkeit sind oberstes Gebot. Redimensioniere deine Ziele, dosiere deine Kräfte. Gaukle dir auf keinen Fall etwas vor, eine unrealistische Einschätzung der Lage könnte äusserst unangenehme Folgen haben. Gehe nicht zu weit, verkümmere aber auch nicht vor lauter Selbstbeschränkung. Vermeide jeden Anflug von Stolz, Ehrgeiz und Arroganz.

既濟
63 jì jì / die Vollendung
kǎn, das Wasser
lí, das Feuer
Die Schriftzeichen
Das erste Zeichen jì bedeutet „bereits, schon“, das folgende „einen Fluss durchqueren, eine Furt durchwaten“. Zusammen bezeichnen sie „ein schwieriges Unterfangen, das man hinter sich gebracht hat“ (Hertzer, Schilling). Dieses zweite jì besitzt sexuelle Untertöne: In einem Gedicht im „Buch der Lieder“ hebt die Frau bei der Flussüberquerung in amouröser Anspielung ihre Kleider und als erotischer Höhepunkt umschreibt das Zeichen den Orgasmus (Minford).
Die Trigramme
Wasser über Feuer: Siedet das Wasser im Kessel über dem Feuer, erzeugen die gegensätzlichen Elemente Energie und Spannung – sie stehen in Beziehung zueinander. Dabei ist Vorsicht geboten: Läuft das Wasser über, droht das Feuer auszulöschen. Ist die Hitze zu stark, verdampft das Wasser. Die komplette Balance zeigt sich auch in der Struktur des Hexagramms: Wie in einer musikalischen Partitur erscheinen Yin und Yang durchkomponiert, jede Note steht an ihrem „richtigen Ort und in harmonischer Entsprechung zu den anderen “, alle Akkorde ergeben ein Klangbild von reinster Ausgewogenheit.
Grundbedeutung
Eine Synthese, ein Optimum ist gelungen – unterschiedlichste Aspekte sind unter einen Hut gebracht. Ein „perfectum“ – eine vollendete Gestalt, ein Augenblick vollkommener Ordnung. Eine Entwicklung hat sich ausdifferenziert, ist an ihre Grenze gekommen und hat ihr Ende erreicht. Gua 63 aber beschreibt „die Situation danach, nachdem die höchste Blüte erreicht ist“. Was will man mehr? Sei dir der Zerbrechlichkeit dieses Höhepunktes bewusst. Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit, Laschheit lauern als versteckte Zerfallserscheinungen in diesem gua.
Urteil- und Linientexte
Der Urteilstext erinnert an die Tatsache: „Das war es gewesen! Nur noch kleine Schritte sind möglich“.
Licht und Schatten
Eine vollbrachte Leistung, die sich sehen lassen darf. Im Moment soll man sich damit begnügen! Doch aufgepasst: Bleibt alles beim Alten, ist ein allmählicher Niedergang unvermeidlich. Das vom Vater erfolgreich aufgebaute Geschäft funktioniert. Es braucht den Sohn, der mit innovativen Ideen und neuen Impulsen den Betrieb weiterentwickelt. Ist sich der Sohn darüber im Klaren, ist alles o.k., meint er aber im alten Fahrwasser weiterfahren zu können, drohen Stagnation und letztendlich der Konkurs. Sich auf den Lorbeeren ausruhen hiesse, passiv in eine Katastrophe hineinschlittern. Weiterhin „so tun als ob“, „gute Miene zum bösen Spiel machen“ entlarvt sich irgendwann als nicht mehr tragfähig und erfüllend. Es hat sich etwas überlebt: Völlig verfehlt wären eine „Vogel-Strauss-Politik“, Selbstgefälligkeit und die Angst vor Veränderung.
Anmerkung
Die Hexagramme 63 und 64 sind eng verwandt: Hier ist das Ziel erreicht, dort noch nicht.

未濟
64 wèi jì / die Unvollkommenheit
lí, das Feuer
kǎn, das Wasser
Die Schriftzeichen
Wèi heisst „noch nicht“, jì meint „überquert“, d.h. ein Vorhaben ist noch nicht beendet, „ein Fluss noch nicht überquert“ (Hertzer, Schilling).
Die Trigramme
Feuer über Wasser streben voneinander weg, Feuer lodert in die Höhe, Wasser fliesst abwärts. Die beiden Mächte stehen sich als isolierte Einheiten gegenüber, die keine fruchtbare Verbindung eingehen (Hertzer). Unvereinbarkeit wird evident.
Grundbedeutung
Unterschiedliche Elemente verknüpfen sich nicht. Die auf den ersten Blick ausgewogene Struktur der Yin- und Yanglinien entspricht mehr dem Anschein als wirklicher Ordnung. Wenn etwas die auseinander driftende Dynamik dieses gua aufzuhalten vermag, dann ist es einzig ein übergreifendes Ziel. Dieses Ziel muss bedeutsam und relevant sein und von jemandem verfolgt werden, der dazu über ausreichende Kräfte verfügt (von Flüe).
Urteil- und Linientexte
Der Urteilstext verwendet ein poetisches Bild einer riskanten Unternehmung: „Kommt der kleine Fuchs, kurz bevor er den Strom überquert hat, mit dem Schwanz ins Wasser, so ist dies unheilvoll“. Ihm fehlt die Erfahrung des alten Fuchses, der mit Behutsamkeit und Vorsicht langsam über die dünne Eisdecke des zugefrorenen Flusses läuft (Schilling).
Licht und Schatten
Standpunkte, die sich diametral gegenüber stehen – die Verhältnisse sind heikel. Ein Umschwung ist zwar vorbereitet, der Übergang aus einer alten in eine neue Ordnung gestaltet sich jedoch schwierig. Die kritischen Punkte müssen „aufs Tapet gebracht“ und bereinigt werden. Die Formulierung „die Dinge wieder an den rechten Ort stellen“ wäre aber zu harmlos, es muss ein überzeugendes Projekt vorhanden sein, um die Potenzen von gua 64 zum Tragen zu bringen (von Flüe). Gelingt es nicht, die Differenzen zu beseitigen, sind alle Mühen vergeblich, der Konflikt schwelt unbewältigt weiter.
Anmerkung
Mit wèi jì bricht die vollendete Form des 63. Hexagrammes wieder auseinander, eine neue Ordnung muss gesucht und gefunden werden. Getreu der dem I Ging zugrundeliegenden Philosophie der Durchdringung und Wandlung der beiden Urprinzipien Yin und Yang endet die Reihenfolge der Hexagramme nicht mit der Vollkommenheit von gua 63, sondern dem Beginn eines neu zu gestaltenden Zyklus.